"Belgiens Tod, Flanderns Brot"

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Am kommenden Sonntag wählt Belgien ein neues Parlament - die flämischen Sezessionisten haben aber ihre Wahl schon längst getroffen: Los von Belgien!

Wer in der Erwartung Fahnen schwingender Sezessionisten nach Antwerpen, Brügge oder Gent gekommen ist, sucht vergeblich. Die Geografie des flämischen Separatismus ist eine der Nischen. Auch offene Bekundungen für die Unabhängigkeit wird der Besucher selbst zu Wahlzeiten kaum hören. Das Herz des freien Flandern schlägt in abgelegenen Seitenstraßen oder unauffälligen Eckkneipen. Nur hier schüttet es sich dem Fremden aus, mal provozierend offen, mal demonstrativ militant, dann wieder zögernd und misstrauisch.

Paul und seine Mittrinker in der kleinen Bar auf dem Koxplein haben genug von diesem Versteckspiel: Natürlich sind sie für den "Blok", wie der Vlaams Belang im Volksmund noch immer genannt wird, und für die Sezession. Und all das trauen sie sich auch "draußen" offen zu sagen. Draußen, das ist Borgerhout, ein Kiez im Osten Antwerpens, und der Stoff, aus dem Überfremdungsszenarien gemacht sind. Rund um den Koxplein ziehen sich Gemüsehandlungen und die Telefonläden, die der Vlaams Belang als Agenten der multikulturellen Unterwanderung brandmarkt und so gerne schließen würde.

Flandern zahlt für Wallonien

Die Schilder von der Wäscherei bis zur Arztpraxis tragen arabische Namen. "Borgerokko" wird das Viertel genannt. Paul streicht sich über den Blaumann und prophezeit: "In zehn Jahren ist das hier eine Kasbah" - wie arabische Altstädte, Zitadellen oder Festungen genannt werden. Durch die offene Tür sieht man Djellabahs und Pantoffeln vorbeiziehen. Doch hier drinnen wird die wehrhafte Pose gepflegt. Zero Tolerance verkündet ein Schild an der Wand. Misstrauische, trotzige Blicke, markige Sprüche, simple politische Analysen: "Flandern bezahlt, Wallonien verdaut", kommentiert Paul den innerbelgischen Finanztransfer.

Verhasstes Symbol Brüssel

Den Grund, warum der Vlaams Belang letzten Herbst bei den Kommunalwahlen selbst in seiner Hochburg Antwerpen gescheitert ist, weiß man. Ein Trick der Sozialdemokraten, die das Stimmrecht für Ausländer durchsetzten. Doch die Feierabendgäste lassen sich nicht unterkriegen: "Sie mögen mehr sein, wir sind schwerer", scheinen ihre grobschlächtigen Gesichter, die fleischigen Arme und massiven Bäuche zu signalisieren. Einen Schönheitspreis gewinnt das unabhängige Flandern wohl nicht mehr.

Eine andere Ästhetik wird in einem toten Winkel der pittoresken Antwerpener Altstadtgassen kultiviert. Unbeachtet von den Touristenscharen, die wie jeden Abend um den Großen Markt herum flanieren, hängt der schwarze Löwe auf gelben Fahnen träge in der lauen Luft. Mit dem Tritt über die Schwelle verändert sich die Farbenlehre. Neben einem Rudel gelbschwarzer flandrischer Wappentiere sind Schwarz-Weiß-Rot im Trend, denn "De Leeuw van Vlaanderen" ist die Bar der militanten Rechten. Mit bürgerlicher Nationalfolklore hält man sich hier nicht auf, Paul und seine Freunde vom Koxplein sind ein Kindergeburtstag verglichen mit der Reichskriegsflagge über dem Tresen hier, einem White Pride-Aufkleber und die Losung "Belgiens Tod ist Flanderns Brot". Dazwischen hängen Wahlplakate der Vlaams-Belang-Prominenz. In wenigen Zügen wird dem Besucher das belgische Elend erklärt: Der Belang ist die größte Partei, hat aber durch ein Komplott der etablierten Politik nichts zu sagen. Wer daran schuld ist, steht fest: "Brüssel", das zwar auch die Hauptstadt Flanderns ist, den Nationalisten jedoch als Symbol der verhassten belgischen Konföderation gilt. Zudem ist die Stadt "verfranzt": 80 Prozent ihrer Bewohner sprechen französisch. Was dem Rastafari das frevlerische und sündige Babylon ist, das bedeutet Brüssel für nationale Flamen.

Im Herzen dieses belgischen Babylons, umgeben von streng bewachten EU-Organisationen, vertritt Hilde de Lobel den Vlaams Belang im flandrischen Regionalparlament. Rührend bemüht ist sie, die Ziele ihrer Partei in ein neutrales Gewand zu kleiden: "Wir sind keine Rassisten", wiegelt sie ab, "sondern Identitaristen. Wir bekennen uns zu unserer Identität." Die neurechte Strömung eines "Europa der Vaterländer" ist zweifellos ihre Baustelle. Ein Aufruf zur Solidarität mit dem unterdrückten Elsass schmückt die Wand, das Plakat daneben verweist auf Ligurien, Padanien und die Lega Nord und legt die Diagnose eines pathologischen Sezessionismus nahe.

Bier schmeckt links & rechts

Die Abspaltung Flanderns strebt der Belang offenbar in breiten Bündnissen an, denn auch zu der kleinen Gruppe der Linksseparatisten "gibt es sehr gute persönliche Kontakte. Nationalistisch sind wir nah beieinander." Die räumliche Entfernung ist ebenfalls nicht groß: Zwei Straßen weiter befindet sich das Vlaams Huis, das mit der Zeitschrift Meervoud das Zentralorgan der Sociaalflaminganten beherbergt. Und auch auf der Linken befeuert der alkoholische Habitus das Unabhängigkeitsstreben - Chefredakteur Christian Dutoit schenkt bei seinem Exkurs durch die Sozialgeschichte Flanderns routiniert nach. In der Bar im Vlaams Huis hängen Karl Marx, Antonio Gramsci und der flämische Kommunist Jef van Extergem.

Privat kein cordon sanitaire

Für Historiker Dutoit ist die im 19. Jahrhundert entstandene flämische Bewegung "schon immer eine linke: republikanisch und anti-monarchistisch". In dieser Tradition sieht er die rund 50 Menschen, die sich vor 15 Jahren als Reaktion auf das Erstarken des Vlaams Belang zusammentaten. Heute ist man vor allem publizistisch tätig: Die Aufsatzsammlung Die rote Zunge des Löwen zum Beispiel ist eine ideologische Standortbestimmung zwischen Antiglobalisierungskampf und nationaler Selbstbestimmung.

Neben der Rhetorik erinnern auch die Plakate zur Solidarität mit dem freien Baskenland an den Wandschmuck im Arbeitszimmer Hilde de Lobels. Und so ist es wenig überraschend, zwei Stunden später Roeland van Walleghem auf einer Geburtstagsfeier am Tresen bei Meervoud vorzufinden, den Mitbegründer der Brüsseler Abteilung des Vlaams Blok. Auf der anderen Seite zapft Dutoit. Hier gilt augenscheinlich die Absprache zwischen den Parteien nicht, keine Kooperation mit dem Vlaams Belang einzugehen. "Privat", sagt Dutout offenherzig, "kennen wir keinen cordon sanitaire."

Der Autor ist

Journalist in Amsterdam.

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