Beobachten heißt überleben

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Hinter unserer Hütte war - aus Lehmziegeln gemauert - schulterhoch ein dachloses Geviert mit einem schmalen Eingang errichtet. Und darüber war ein in Gabelungen eingepasster Stamm gelegt, an dem, mit kräftigen Schnüren befestigt, zwei schwarze Plastikbehälter mit Gießkannenöffnungen hingen. Das war unsere Duschgelegenheit.

Bei den Vorbereitungen für ein solches Bad wurden wir meist von mehreren Gruppen von Kindern aufmerksam beobachtet. Man konnte die gereckten Hälse, das Pendeln der Köpfe und die leuchtenden, aufmerksamen Augen sehen. Die Kinder sind in den afrikanischen Dörfern auf Grund der Hierarchie der Stammesgesellschaft gegenüber Erwachsenen zum Schweigen verurteilt. Sie stellen keine Fragen, und man würde diese auch nicht beantworten. Als Kinder haben sie nichts zu fragen und zu sagen. Also schöpfen die schwarzafrikanischen Kinder in den Dörfern alle ihre Welterfahrung aus dem Beobachten, aus dem Hinsehen und dem Zuhören. Und so beobachteten sie auch genau unsere Vorbereitungen für das Duschen und unseren Wassergenuss von oben.

Das Duschen gehört in einem Saheldorf wie Sonongo, wo wir unseren Forschungsstützpunkt in einigen Hütten aufgebaut hatten, nicht zur Körperkultur. Das kann gar nicht so sein. In einer Ökologie, die vom Verdursten bedroht ist, ist eine solche Art der Körperpflege im Grunde verschwenderisch.

Trotzdem gibt keine schmutzigen Menschen in Sonongo - trotz der Wasserknappheit. Die Kleinkinder werden von den Müttern nackt in kleine runde Schüsseln gestellt, eingeseift und abgespült. Die Erwachsenen seifen sich selber ein und schütten sich dann mit ebendenselben kleinen Schüsseln das Wasser sparsam den Körper hinunter. Sie sind sehr darauf bedacht, dass niemand ihre Nacktheit sieht. Die Brust der Frau, lebenserhaltend für das Kind während der beiden ersten Lebensjahre und wegen der vielen Geburten jahrzehntelang im Frauenleben öffentlich dem Nachwuchs angeboten, wird allerdings nur bedingt in den Bereich der Nacktheit gerechnet.

Die Kinder, unsere schärfsten Beobachter, waren für uns die bedeutendsten Zeugen der Armut. Die Wiederverwertung von Abfall, von abgefahrenen Autoreifen, von Eisen- und Blechstücken, von weggeworfenem Plastik und Glasbehältern jeder Art und Größe, all das hat in den ärmsten Ländern der Welt große Bedeutung. In Sonongo waren es die Kinder, die sich auf den mehr oder minder verwertbaren Abfall stürzten, den unser Team produzierte. Die Kinder beobachteten uns nicht nur bei der Vorbereitung unserer Bäder, sondern auch, wenn wir den Abfall von unserer Hütte wegbrachten.

Ich wusste, dass der Drang der Kinder auf das, was aus unserer Küche und Lebensführung zum Wegwerfen kam, unvermeidbar war. Es gelang uns auch, im Team eine Trennung der verschiedenen Arten von Abfall zu erreichen. Die Reste der ärztlichen Behandlung, alte Verbände und Pflaster, verbrannten wir sofort. Außerdem bemühte ich mich zunächst, die Kübel erst nach Einbruch der Nacht auszuleeren.

Aber dabei hatte ich mich getäuscht: Aus dem Dunkel stürmten, übereinander stolpernd, die Buben hervor, um irgend etwas zu erhaschen. So entschloss ich mich, den Abfall wieder am Tag zu deponieren, mit der Absicht, besonders die leeren Konservenbüchsen in der umstehenden Kinderschar selber zu verteilen. Aber dabei hatte ich die Wucht des Ansturms unterschätzt. Ich wurde fast umgerissen. In wenigen Sekunden war der Platz leer, und unter den Davonstiebenden waren noch manche darauf bedacht, solchen, die mehr erhascht hatten, etwas davon zu entreißen. So stand ich da, im bedrängenden Gefühl, keinen befriedigenden Modus der Verteilung gefunden zu haben. Ich erlebte dies als zusätzliche Peinlichkeit zu der schon vorhandenen grundlegenden Beschämung, dass das, was wir wegwarfen, im Wert- und Verwertungssystem unseres Dorfes so begehrt war, dass man sich darum stritt. Vollends betroffen aber war ich, dass kurz nach der Szene des Wettkampfs der Kinder um den Müll - ich verharrte immer noch nachsinnend bei der Mistgrube - die Gruppe der fünf oder sechs Buben im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, die vorhin den Beutezug unternommen hatte, auf mich zugelaufen kam in einer Haltung, als wollten sie etwas von mir verlangen.

"Das schadet uns!"

Das Rätsel löste sich in dem Augenblick, als aus der Mitte der Gruppe ein Bub mir seine kleine blutüberströmte Hand entgegen streckte. Er hatte sich beim Kampf um die leeren Konservenbüchsen in der Heftigkeit des Zulangens eine tiefe Schnittwunde im Handteller zugefügt. Alle Buben sahen mich auffordernd an. Am stärksten berührte mich der Blick des Kleinen, der die Wunde vorwies. Die großen weißen Augäpfel leuchteten aus dem schwarzen Gesicht. Der Blick war vorwurfsvoll - ich verstand ihn jedenfall so. Er schien zu sagen: "Da gebt ihr uns etwas von euch, aber mir bringt es Schaden!"

Ich ging mit der Kindergruppe zu der mit Schilfgeflecht verdeckten und mit Stroh überdachten Veranda, in der unser Arzt Patienten behandelte. Zusammen mit seinem afrikanischen Assistenten, der die verletzte Hand hielt, wurde die Wunde gereinigt und verbunden. Es galt den Schaden schnell zu heilen, den wir verursacht hatten.

Als ich am Abend mit dem Arzt den Vorfall besprach, erklärte er mir, dass er schon mehrere Patienten mit solchen Verletzungen behandelt hatte. Ich begann darüber nachzudenken, welche anderen, nicht so deutlich sichtbaren Schädigungen Menschen aus der reichen Welt in Afrika zurücklassen und noch zurücklassen werden.

Buch-Tipp

Leopold Rosenmayr, Wiener Sozialforscher und Soziologe, verbrachte von 1982 bis 2000 immer wieder mehrere Monate zu Forschungszwecken in den Dörfern der Sahelzone von Mali. Sein Wissen und die Begegnungen mit den Sippen und Stammesgesellschaften des Landes hat er in seinem Buch "Baobab. Geschichten aus Afrika" zusammengefasst (Verlag Leske + Budrich).

Der Autor vermag darin nicht nur, das vertraute allgemein Menschliche aufzudecken, sondern auch den Blick dafür zu öffnen, was der westlichen Mentalität normalerweise verborgen und unverständlich bleibt.

Hier ein Auszug aus dem Buch.

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