Berechungen der Menschlichkeit

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Worüber sich die Staats-und Regierungschefs der EU bei einem Asylgipfel unterhalten sollten -und wie sich die Situation für alle Beteiligten bessern könnte. Eine Analyse.

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Worüber sich die Staats-und Regierungschefs der EU bei einem Asylgipfel unterhalten sollten -und wie sich die Situation für alle Beteiligten bessern könnte. Eine Analyse.

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Es wird in diesen Tagen viel über Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingen diskutiert und dass sie die Staaten Europas in diesen Tagen logistisch, finanziell, ja auch kulturell überfordern könnte. Dass, wie die konservative Zeitung Die Welt es in großen Lettern auf ihre Seite Eins schrieb, "Europa am Ende seiner Kräfte" ist. Die Bilder vom ungarischen Grenzzaun, die vielen wandernden oder sich stauenden Flüchtlingsgruppen, die Beschreibungen als "Flut" und "Völkerwanderung" (beides ihrem Wesen nach Todesdrohungen), die von englischen Politikern gebrauchten Vergleiche von Flüchtlingen mit Schädlingen und Tieren, scheinen diese Ansicht ja auch Tag für Tag zu bestärken.

Bewegt man sich hinter die erste Ebene des Anschaulichen und auch hinter jene des gerechtfertigten Schockzustandes in österreichischen Grenzorten und auf mehreren Bahnhöfen Deutschlands und Österreichs, dann bleibt übrig, dass sich das mächtige Europa mit seinen mehr als 500 Millionen Bürgern durch knapp eine Million Flüchtlinge an den Rand des Untergangs gedrängt sieht. Wer das ein Armutszeugnis nennen will, wird vermutlich einige Unterstützer finden, die letztendlich auch zu der Einsicht neigen, dass eigentlich nicht Europa selbst am Ende seiner Kräfte ist, wie man an den hunderten Freiwilligen sieht, die in diesen Tagen zu helfen bereit sind. Sondern, dass die Weitsicht und die politischen Fähigkeiten einzelner Regierungen - allen voran jener der Visegrád-Staaten -den Ansprüchen der Realität nicht genügt.

Historische Verantwortungen

Dieser Vorwurf betrifft die Regierungen Deutschlands und Österreichs nur insofern, als sie jahrelang zugesehen haben, wie Griechenland und Italien organisatorisch an der Flüchtlingsfrage scheiterten und ihnen nicht zu Hilfe kamen (wie die FURCHE mehrfach seit 2010 berichtete), bis diese Länder zur letzten Notmaßnahme griffen und die Ankommenden durchzuwinken begannen.

Die letzte Frage, die sich derzeit in Europa und vor allem in den Zielländern (Deutschland an erster Stelle) zu stellen scheint, ist eine wirtschaftliche. All jene, die da kommen, werden als eine Last gesehen, und handelt es sich auch um Ärzte und Ingenieure und mögen sie auch noch so viel besser Englisch sprechen können, als der landläufige Parlamentsabgeordnete. Eine Belastung sind sie jedenfalls und sei es auch nur für die Besucher des Münchner Oktoberfestes, auf das der bayrische Innenminister Joachim Hermann (CSU) in einem Anfall psychologischer Umkehrung verwies (Man müsse die ankommenden Muslime vor dem Anblick schwerbetrunkener Festbesucher schützen).

Als echte wirtschaftliche Belastung lassen sich Migranten freilich in keiner bekannten Studie beschreiben. Langfristig gesehen werden in letzteren Ländern mehr Jobs geschaffen und mehr Wertschöpfung erzielt.

Im konkreten Fall aber kreist die Diskussion in Europa eher darum, wie man weniger Menschen anlockt. In Diskussion sind Schutzzonen und sogar militärisches Engagement. Dabei würde schon ein Blick auf die Situation in den Flüchtlingslagern im Libanon, Jordanien und in der Türkei verständlich machen, was die Menschen nach Europa treibt: die Suche nach Recht und Sicherheit. Denn in den Lagern gibt es beides nicht. In zahlreichen arabischen Medien, aber auch in Berichten des UNHCR wird festgehalten, wie sich das organisierte Verbrechen relativ ungehindert sein eigenes Faustrecht in den Lagern wie jenem in Zaatari in Jordanien schmiedet. Neben Schutzgelderpressung und anderen Formen der Nötigung finden sich auch Netzwerke von Menschenhändlern. Syrische Frauen und Mädchen, so heißt es in etwa im libanesischen Al-Monitor, werden Opfer von Vergewaltigung und Verschleppung in den Lagern im Libanon und in der Türkei. Prostitutionsnetzwerke seien in den Lagern weit verbreitet und würden Syrerinnen in die Geheimprostitution als "Künstlerinnen" in Richtung Vereinigte Arabische Emirate und nach Saudi-Arabien vermitteln. Die männlichen Jungendlichen wiederum würden vermehrt Opfer der Rekruteure verschiedenster Kampfgruppen in Syrien.

Wer also in Europa will, dass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen, muss in den Lagern und bei der Kriminalitätsbekämpfung ansetzen. Das und die würdige Versorgung der dort Lebenden stellen für die EU keine unüberwindliche Aufgabe dar. In einer noch weiter gehenden Phantasie einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik wäre es vielleicht sogar möglich, den diplomatischen Dienst der EU mit Stützpunkten in den Lagern zu installieren, der Ansuchen von Reisewilligen entgegennimmt und Asylanträge bereits in den Lagern bearbeitet. Das würde nicht nur dem Chaos in der Logistik einen Riegel vorschieben, sondern auch der Schleppermafia das Wasser abgraben.

Vom Fliegen und vom Schleppen

Augenblicklich tut Europa aber das Gegenteil dessen. Florian Bieber, Professor für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz, hat in einem aufsehenerregenden Artikel in der NZZ auf einen anderen Zynismus hingewiesen, den man auch aus ökonomischer Sicht betrachten kann. Dass terrorbegeisterte Männer und Frauen aus ganz Europa bequem per Flugzeug in den Dschihad nach Syrien jetten. Flüchtlingen, die dem Terror entkommen, bleibt dieser Transportweg in die Sicherheit Europas hingegen gesetzlich verwehrt. Und zwar weil Fluglinien seit 2001 dafür haften, dass ihre Passagiere sämtliche notwendigen Dokumente zur Einreise in die Schengenzone besitzen müssen (vgl. auch Seite 8).

Damit sind Flugreisen für Flüchtlinge praktisch keine Option. Statt für ein Oneway-Ticket und halbwegs kontrolliert in Europa einreisen zu können für durchschnittlich 200 Euro, müssen sie organisierten Kriminellen mehr als 5000 Euro bezahlen. Wenn man nun eine zarte Berechnung auf Basis einer angenommen Zahl von einer Million Flüchtlingen anstellen würde, dann landen aufgrund von gesetzlicher und politischer Arbeits- und Denkverweigerung fünf Milliarden Euro in den Händen von Kriminellen anstatt 200 Millionen in den Kassen der europäischen Fluglinien. Und trotz dieser miserablen Bilanz kommen die Menschen trotzdem. Sie stranden mit leeren, traumatisierten und bedürftigen Händen in Nickelsdorf, anstatt mit halbwegs gefüllten Börsen geregelt und kontingentiert über Schwechat einzureisen. Man könnte das ohne jeden Zynismus ein Geschäft der Menschlichkeit nennen.

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