Besinnt sich Europa? Fragen an Chefredakteur Rudolf Mitlöhner

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Auf Kritik stieß der letztwöchige Leitartikel dieser Zeitung. Die FURCHE dokumentiert den diesbezüglichen Blog-Beitrag Paul M. Zulehners - und stellt sich der Diskussion.

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Auf Kritik stieß der letztwöchige Leitartikel dieser Zeitung. Die FURCHE dokumentiert den diesbezüglichen Blog-Beitrag Paul M. Zulehners - und stellt sich der Diskussion.

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Die christlichen Kirchen - und insbesondere die katholische Kirche als größte Denomination - werden sich fragen müssen, wo und wofür sie stehen. Sie - und jeder einzelne Gläubige in ihnen - werden wieder verstärkt zum Leuchten bringen müssen, worum es ihnen zu tun ist: ihren Glauben, ihre Riten, ihre Tradition, ihre Werte. Sie werden sich aber auch selbstkritisch fragen müssen, ob sie nicht aus falsch verstandener Nächstenliebe oder aus Naivität oder aus dem Bedürfnis, einmal auf der 'richtigen Seite' zu stehen, dem Vorschub geleistet haben, was als 'Willkommenskultur' für jene Verwerfungen mitverantwortlich war, mit denen wir jetzt konfrontiert sind.

Es verwundert, dass eine solche Aufforderung zur Selbstbefragung der Kirchen just in der FURCHE zu lesen ist ("Besinnt sich Europa?", 28. Juli 2016). Geschrieben vom Chefredakteur Rudolf Mitlöhner. Ich möchte ihm Gegenfragen stellen.

Meinen Sie nicht, dass die beklagten Verwerfungen der Flüchtlingskrise (die Sie geflissentlich nicht nennen) vom Krieg in Afghanistan, Syrien, vom ausbleibenden Waffenstillstand, der fortwährenden Waffenlieferung, dem Fehlen eines Marshall-Plans für den Wiederaufbau nach dem Krieg noch immer laufend verursacht werden? Es trifft ja auch nicht zu, wie Politiker populistisch ätzen, dass Menschen deshalb in der Ägäis ertrinken, weil es eine "Willkommenskultur" gibt. Die Menschen suchen Überleben, Sicherheit, Frieden, Ausbildung für ihre Kinder. Die meisten würden liebend gern daheim leben, dort, von wo der Wahnsinn des Krieges sie vertrieben hat. Eine Syrerin sagte mir dieser Tage: Ich habe so sehr Sehnsucht nach meinen Aprikosenbäumen in Aleppo.

Was ist an Nächstenliebe naiv?

Was, geschätzter Herr Chefredakteur, ist daran naiv, dass Christen, Orden, Pfarrgemeinden zusammen mit dem Roten Kreuz, dem Hilfswerk, der Diakonie, der Caritas Nächstenliebe praktizieren? Macht es Ihnen gar nicht zu schaffen, dass jene, die sich engagieren, sich oft schon für ihr Tun verteidigen müssen? Und nun auch vor ihnen, weil Sie sie als naiv diskreditieren? Man kann allerdings die Nächstenliebe journalistisch derart verkomplizieren, dass sie nicht mehr geübt werden muss. In der Tat, Personen, die gegen die Schutzsuchenden Abwehr und Ärger verspüren, meinen zu 67 Prozent, man könne ein guter Christ sein, ohne sich für die Flüchtlinge zu engagieren. Kann man das wirklich, Herr Mitlöhner, Chefredakteur der von Friedrich Funder und Friedrich Heer inspirierten FURCHE? Oder erleidet die FURCHE jenen programmatischen Verlust, dem inzwischen große Teile der ÖVP und der Sozialistischen Partei aus Angst vor dem Machtverlust zum Opfer gefallen sind, was zur fatalen Implosion der politischen Mitte im Land geführt hat und das tragische und folgenschwere Ende der Regierung durch eine breite politische Mitte nur beschleunigt hat?

Und dann das ständige Ironisieren der Willkommenskultur. Allein dass sie unter Anführungszeichen gesetzt wird, stört mich. Es ist auch ein Angriff auf die unumgängliche Integrationspolitik. Das Land hat 2015 erfreulicher Weise 90.000 Flüchtlinge aufgenommen, jetzt gibt es noch einmal die Bereitschaft, fast weitere 40.000 aufzunehmen. Diese gilt es, falls sie als Kriegsflüchtlinge Asyl zugesprochen bekommen (sind es unter den syrischen Kriegsflüchtlingen nicht 70 Prozent?), was ihnen rechtlich verbrieft ist, in das gesellschaftliche Leben zu integrieren. Dann können und werden auch sie ihren Beitrag kulturell und ökonomisch für das Land leisten können. Solche Integration gelingt nur, wenn ein Land und seine Bevölkerung aufnahmebereit sind, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt, in Begegnungen und Festen, in den Kirchengemeinden, in den Moscheevereinen. Was ist Aufnahmebereitschaft anderes als die Bereitschaft, einen fremden Menschen willkommen zu heißen? Wie kann man integrieren wollen und zugleich die Bereitschaft, willkommen zu heißen, als naiv belächeln, madig machen und damit die Bereitschaft in der Bevölkerung unterwandern?

Mystik gibt es nicht ohne Politik

Natürlich ist Integration kein Kinderspiel. Deutsch zu lernen ist für die Schutzsuchenden zumeist ebenso schwierig wie für uns Arabisch, Farsi oder Paschtun. Die Flüchtlinge decken zudem die längst vorhandenen Engpässe auf dem Wohnungs-und Arbeitsmarkt auf und verursachen diese nicht. Könnte es sein, dass die Politik manchmal für die Flüchtlingsdebatte dankbar ist, weil man dadurch über die eigentlichen sozialpolitischen Probleme nicht reden muss? Über bezahlbaren Wohnraum und eine Arbeit, von der man auch leben kann? Was, Herr Chefredakteur, ist Ihre Alternative zur Willkommenskultur, also zur Kultur der Integration?

Ich kann Angela Merkel viel abgewinnen. Sie ist keine Wendekanzlerin. Sie steht zu ihrer Politik und betont, dass - wenn man wirklich will - die historische Herausforderung gemeistert werden kann. Sie wird deshalb die nächste Wahl in Deutschland auch gewinnen. Eine Politik aber, die behauptet, diese historische Herausforderung, mit Klugheit natürlich (!), auf dem Boden des Rechts und der darin geschützten Humanität nicht zu schaffen, sollte umgehend abgewählt werden. Es ist naiv, den Menschen im Land vorzugaukeln, es gebe eine gerechte und friedliche Zukunft der Welt, wenn wir uns als Oase des Reichtums in einer Wüste der Armut abschotten.

Willkommenskultur ist daher nichts anderes als politisch ausformulierte Nächstenliebe. Ich weiß schon: Auf diesem Weg braucht es zumutbare kleine Schritte. Aber das Ziel muss stimmen. Täusche ich mich, Herr Chefredakteur, dass wir in dieser Frage anderer Meinung sind? Sie wollten wissen, wo und wofür ich als Mitglied meiner Kirche stehe. Zu Recht. Aber könnte es sein, dass die Kirche eben gar nicht anders kann, weder aus Naivität noch aus Opportunismus noch um auf der "richtigen Seite" zu stehen, als zunächst zu sagen: Wenn es nur einen Gott gibt, ist jeder und jede einer und eine von uns. Auch der dreijährige Aylan Kurdi, der tot an die Küste der Türkei zurückgeschwemmt wurde und mittlerweile viele tausend andere, für uns Namenlose. Und das nicht deshalb, weil Angela Merkel gesagt haben soll (was ich nie von ihr gehört habe):"Kommt, kommt, kommt!" Sondern er ist ertrunken, weil er zu überleben suchte, was er daheim in Syrien aber nicht mehr konnte und weil ihm Europa keinen legalen Zuweg eröffnet hat. Warum beklagen Sie sich über die Nächstenliebe der Engagierten, zu denen Sie ja als Christ sicher auch gehören, und mahnen nicht ein, dass es, wie unser Außenminister fordert, Programme eines gefahrlosen Resettlements gibt? Sollten Sie nicht das Desengagement der Politik beklagen denn das Engagement so vieler engagierter Christen und Nichtchristen -vor allem so vieler junger Menschen?

Befremdlich finde ich als Christ und Theologe Ihre Halbierung des Christentums auf Spiritualität (Glauben, Riten, Tradition) und vor allem auf blass-liebliche Werte, deren Inhalt Sie geflissentlich verschweigen, weil Sie dann die Nächstenliebe politisch operationalisieren müssten. Sie reißen, wovor Jesus ständig warnte, Gottes- und Nächstenliebe auseinander. Mystik gibt es nicht ohne Politik. Man kann sich an den Fremden und Obdachlosen vorbei nicht ins Heil retten, sagt Jesus unmissverständlich (Mt 25,40). Hier liegt das Hauptproblem Ihrer unerträglichen Schelte der engagierten Kirchen. Sie halbieren die Liebe und lassen sie so hinter sich. Denn solche halbierte Liebe regrediert zur Koalition mit den eigenen Leuten, wird zum Sippenegoismus, ist ein Freibrief für den ohnedies schon bedrohlich aufkeimenden Nationalismus, der Europa in verheerende Weltkriege riss: und all das (auch) im Namen des Christentums. Aber bringt solches Reden nicht Gott mehr in Misskredit denn in Kredit, Herr Chefredakteur?

Es verwundert, dass eine solche Aufforderung zur Selbstbefragung der Kirchen just in der FURCHE zu lesen ist.

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