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Bewährt vor Gegenwart und Geschichte

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Am 1. Oktober jährt sich zum vierzigsten Male der Tag, von dem unsere geltende Staatsverfassung datiert wird und ihre Rechtswirksamkeit herleitet. Ein solcher Zeitraum ist bei weitem nicht lang genug, um über die politische oder juristische Güte eines Gesetzes ein befriedigendes Urteil abzugeben. Österreich hat Gesetze, die auf weit längere Erprobung verweisen können. Dies gilt vor allem von unserem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch und in nicht minderem Maße von unserem Strafgesetzbuch. Auch darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß unsere Verfassungsgesetzgebung eine manchmal beängstigende Tendenz aufweist, aus kaum rechtfertigbaren Gründen, unter denen die Koalitionspolitik, hinter der parteipolitische Interessen stehen, eine erhebliche Rolle spielt, Verfassungsänderungen herbeizuführen. Am bedenklichsten sind darunter jene, die sich in das Verfassungswesen förmlich einschmuggeln; die sich nicht als solche bezeichnen, sondern in einfachen Gesetzen mit dem harmlosen Beiwort „Verfassungsbestimmung“ aufscheinen. Diese vielfachen Änderungen haben berechtigterweise schon oft lebhafte Kritik hervorgerufen, so daß sich die Regierung vor Monaten veranlaßt sah, eine übersichtliche Neuveröffentlichung unserer Verfassung anzukündigen. Trotz alldem darf über unser Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, BGBl. Nr. 1, gesagt werden, daß es sich als ein politisch wie juristisch vorzügliches Gesetzgebungswerk vor Volk, Gegenwart und Geschichte im höchsten Maße bewährt hat. — Wir sind nur, wie bei allem, in dessen ruhigem Besitz wir uns fühlen, allzuleicht versucht, dessen Wert zu vergessen. Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte unserer Bundesverfassung erscheint daher nach dem vierten Jahrzehnt ihres Bestandes nicht bloß einer gewohnten Übung zu entsprechen, sondern fordert berechtigte Beachtung.

Als sich nach dem Manifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918 die Habsburgermonarchie als Folge nationaler Selbständigkeitserklärungen aufgelöst hatte, war auch der deutschsprachige Teil der kaiserlichen Erblande genötigt, sich ein staatsrechtliches Gefüge zu geben. Es geschah dies durch provisorische Verfassungsbestimmungen und durch Ausschreibung von allgemeinen Wahlen auf Grund des gleichen, geheimen und proportionalen Wahlrechts zur „Konstituierenden Nationalversammlung“, die am 16. Februar 1919 durchgeführt wurden. Am 4. März trat diese erstmals zusammen. Aber zur Enttäuschung der mehr erwartenden Öffentlichkeit begnügte sie sich mit einigen an sich nicht unbedeutenden Abänderungen der provisorischen Verfassung. An ihre eigentliche Aufgabe, eine endgültige Verfassung zu schaffen, ging sie zunächst nicht heran.

Von allem Anfang an bestand allerdings in den maßgebenden Kreisen die Absicht, die Verfassung der österreichischen Republik bundesstaatlich zu gestalten. Der historische Charakter der Kronländer war über der Zeiten Fluß hinweg auch jetzt noch stark genug, daß ihre etatische Individualität erkannt und anerkannt werden mußte. Nur durch die Form des Bundesstaates konnte der schon damals immer schärfer werdende Gegensatz zwischen den Ländern und dem Staatsganzen ausgeglichen werden. Die Überzeugung, daß eine Bundesstaatsverfassung geboten sei, kam schon in dem Entwurf zum Ausdruck, der von der Christlichsozialen Partei in der Sitzung der Nationalversammlung vom 14. Mai 1919 unter dem Titel „Verfassung des deutschen Bundesstaates Österreich“ eingebracht wurde. Er sah ein Zweikammerparlament vor, ein „Volkshaus“, das aus direkten Wahlen hervorgehen sollte, und ein „Ständehaus“, das aus je drei Vertretern jedes Landes bestehen sollte und aus so vielen Mitgliedern, die „die Räteorganisationen als Berufsvertretungen“ ihrer Stärke entsprechend zu wählen gehabt hätten. Zu jedem Gesetz wäre die übereinstimmende Beschlußfassung beider Kammern nötig geworden. So zeitnahe dieser Entwurf war, er gelangte niemals zur Beratung.

Bald darauf erhielt Prof. Dr. Hans Kelsen von Staatskanzler Dr. Renner den Auftrag, einen amtlichen Entwurf auszuarbeiten. Im Oktober 1919 vereinbarten die Christlichsoziale Partei und die Sozialdemokratische Partei die Konstituierung eines Bundesstaates, dem das neu angeschlossene Deutsch-Ungarn unter dem Namen Burgenland als eigenes Land eingegliedert wurde. Alle dem Bund nicht vorbehaltenen Angelegenheiten sollen in die Zuständigkeit der Länder fallen.

Um die Vorarbeiten voranzutreiben, wurde der Tiroler christlichsoziale Abgeordnete Professor Dr. Michael M a y r in die Staatsregierung berufen. Ihm oblag nun die politische Erarbeitung des Verfassungswerkes. Er bereiste sämtliche Landeshauptstädte und nahm an der Länderkonferenz in Salzburg, die vom 15. bis 17. Februar 1920 tagte, teil. Am 20. April fanden diese Beratungen in Linz ihre Fortsetzung. Bei dieser Konferenz brachten auch die Sozialdemokraten und Großdeutschen Verfassungsentwürfe vor. Es ist hier nicht der Ort, darauf näher einzugehen, doch sei auf die interessante Tatsache hingewiesen, daß manche der damaligen Vorschläge der Großdeutschen in der Verfassungsnovelle 1929 wiedererstanden, jetzt Gesetzeskraft erhielten und vielfach heute noch in Kraft sind. Auch in der Nationalversammlung wurde am 18. Mai 1920 dieser Entwurf namens der Großdeutschen vom Abgeordneten Dr. Ding-hofer eingebracht. Da die Parteienverhandlungen sich fruchtlos dahinzogen, sah sich die Christlichsoziale Partei veranlaßt, auch ihrerseits einen neuen Entwurf als Antrag der Abgeordneten Michael Mayr und Genossen einzubringen, der allerdings von dem seinerzeitigen Entwurf sehr erheblich abwich.

Die Nationalversammlung, die doch als verfassunggebende gewählt worden war, vermeinte schon auseinandergehen zu müssen, ohne ihre Aufgabe gelöst zu haben. Mit Gesetz vom 6. Juli 1920 kürzte sie selbst ihre Legislaturperiode bis 31. Oktober 1920 ab. Da faßten die beiden bedeutendsten Köpfe der Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Dr. Otto Bauer als Vorsitzender des Verfassungsausschusses und der geistige Führer der Christlichsozialen Partei, Prälat Dr. Ignaz S e i p e 1, als Berichterstatter den Entschluß, die Initiative in den Verfassungsausschuß zu verlegen. Denn es drohte schon die Gefahr, daß die Länder ohne Mitwirkung des Zentralparlaments und der Zentralregierung, also auf revolutionärem Wege, eine Bundesverfassung vereinbaren und so statt einer bundesstaatlichen eine staatenbündische Verfassung zustande kommen würde. Am 11. Juli 1920 wurde ein Expertenkomitee, bestehend aus Staatssekretär Prof. Mayr, Prof. Kelsen, Ministerialrat Dr. Fröhlich und Sektionsrat Dr. Mann!icher berufen. Das Ergebnis ihrer Arbeit beschäftigte einen Unterausschuß des Verfassungsausschusses. Am 24. September konnte Dr. Seipel diesem und am 26. September der Nationalversammlung seinen Bericht erstatten. Die Kompromißformel war gefunden. Das aus den Trümmern des Weltkrieges sich wiedererhebende österreichische Kernland, das fast auf den Bestand der Babenbergerzeit zusammengeschmolzene Staatswesen, hatte sein Staatsgrundgesetz, eine moderne djemokratisch-parlamentarische Verfassung nach dem Muster der westlichen Demokratien, der reichsdeutschen und zum Teil auch der Schweizer Verfassungen.

Ihrem Wesen nach ist diese Verfassung, die am 1. Oktober 1920 als Bundesverfassungsgesetz verlautbart wurde, das Organisationsgesetz unseres Staates. Der Katalog der Grund- und Freiheitsrechte, der üblicherweise an der Spitze einer Verfassung zu stehen pflegt, wurde in ihr nicht inartikuliert. — Die Verhandlungen darüber blieben ohne Erfolg; man mußte darauf verzichten, sie neu zu formulieren. Eine Parteienvereinbarung zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten bestimmte, daß das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, mit Ausnahme des Artikels 20, als Verfassungsgesetz weiter zu gelten habe. Das gleiche wurde für die Gesetze vom 27. Oktober 1862, RGBl. Nr. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit und RGBl. Nr. 88 zum Schutze des Hausrechtes in der Schlußbestimmung des Bundesverfassungsgesetzes verankert. Daß unsere Verfassung keinen eigenen Katalog der Grund- und Freiheitsrechte aufweist und den überlieferten der Monarchie wie ein Fremdslück sich im Schlußabsatz einverleibte — nebenbei bemerkt, eine Idee Ignaz Seipels —, ist sicherlich ein formaler Mangel und für die Systematik einer Verfassung ein arger Schönheitsfehler. Betrachten wir die Dinge heute im Rückblick auf vierzig Jahre des Bestandes dieser Verfassung, war es kaum ein Nachteil. Wer weiß, was vom Augenblicksideengut der Revolutionszeit nach 1918 in eine Neuformulierung geschlittert wäre! So wurde erprobtes, altbewährtes Gedankengut erhalten. Selbst dem Ausdruck Staatsgrundgesetz soll ein gebührend Maß Verehrung entgegengebracht werden. Wären doch unsere Verfassungsgesetzgeber sich dessen nur mehr bewußt, daß es bei jedem Verfassungsgesetz um ein Staatsgrundgesetz geht! Vielleicht würde man dann vor allzu raschen und dem Augenblick dienenden kleinen Änderungen häufiger zurückschrecken.

Wer das Verfassungswerk vom Jahre 1920 würdigen will, der halte sich die Lage in den Staaten vor Augen, zwischen denen Österreich damals lag. In Bayern gab es die Diktatur des Anarchisten Kurt Eisner. in Sachsen trieb der Bandenführer Hölz sein Unwesen, die Spartakusgruppen beunruhigten die junge Weimarer Republik, und in Ungarn war der Sowjetstaat Bela Kuns und Tibor Szamuelys kaum überwunden. Daher darf man ein auf die Koalitionsregierung gemünztes Seipel-Wort auf das Bundesverfassungsgesetz anwenden. „Es handelt sich darum, daß eine Verfassung überhaupt gebildet werden mußte. Denn wäre sie nicht gebildet worden, dann hätte nicht die Nationalversammlung — oder später der Nationalrat — regieren können, sondern die Anhänger des Sowjetgedankens hätten ihr Ziel erreicht, und es wäre bei uns schon damals die Rätediktatur aufgerichtet worden.“

In der großen Krise der europäischen Demokratie allerdings hielt auch unsere Verfassung nicht stand; auch sie wurde zeitweise von Faschismus und Nationalsozialismus verdrängt. Aber als das große Wiedererstehen der Demokratie in Europa erfolgte, da erstand auch unsere Bundesverfassung, wenn auch in der

Modifikation des Jahres 1929 wieder. Und welch segensreiche Schutzwehr bildete sie! Das russische Besatzungselement, und nicht immer nur die Sowjets allein, forderten 1945 die Schöpfung einer neuen Verfassung. Wie erst recht wäre diese vom „Geist“ der damaligen Tage beeinflußt worden, und wie sehr hätten sich die „Machtverhältnisse“ von damals darin widergespiegelt!

Darum gedenken wir heute, an ihrem vierzigsten Geburtstag, unserer Bundesverfassung mit Genugtuung und Stolz. Die Mängel, die der Lauf der Zeit an ihr klargelegt hat, werden zu gegebener Zeit behoben werden; als Ganzes genommen, wird sie auch in Hinkunft den geebneten Boden unseres politischen Lebens bilden, es in geordneten Bahnen erhalten und sich in ihren Wesenszügen als Staatsgrundgesetz behaupten.

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