Bischof, von Indigenen bekehrt

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Der Norden Mexikos erleidet eine beispiellose Gewaltwelle. Banditen erschießen Polizisten, Banden liefern sich Kriege, Dutzende Menschen wurden hingerichtet. Gegen die Gewalt erhebt keiner seine Stimme so laut wie Bischof Raúl Vera López.

Zwischen dem Reden und dem Tun liegt in der Mitte das Meer", sagt ein italienisches Sprichwort. Vielleicht hatte der Leiter des UN-Menschenrechtsbüros in Mexiko, der Italiener Amerigo Incalcaterra, diesen Spruch im Kopf, als er die Menschenrechtssituation in Mexiko umriss: "Wenn man mit einer gewissen Ausführlichkeit die Wirklichkeit im Lande betrachtet, zeigt sich, dass unterhalb des Menschenrechtsdiskurses äußerst ungerechte Wirklichkeiten begraben liegen, wie etwa die systematische Verletzung der Rechte der Migranten, die Diskriminierung der indigenen Völker, die Gewalt gegen Frauen, die Präkarisierung der Arbeit, die enorme Chancenungleichheit, der maßlose Einsatz der Staatsmacht." Am 23. Mai verließ Amerigo Incalcaterra das Land, das er zweieinhalb Jahre lang in Menschenrechtsfragen beraten und beobachtet hatte. Seine kritischen Äußerungen waren dem Präsidenten nicht genehm.

Im gleichen Ton, nur wesentlich direkter und ohne Umschweife, äußert sich der mexikanische Bischof Raúl Vera López: "Mexiko hat sich seit 30 Jahren völlig dem derzeit weltweit vorherrschenden Wirtschaftsmodell des Neoliberalismus verschrieben. Das hat nicht nur zu einer Lähmung des Fortschritts und der Entwicklung der Mexikaner geführt, sondern zu einem wahrhaften Rückschritt. Eine erste Auswirkung davon ist die zunehmende Arbeitslosigkeit, das Fehlen von Arbeitsplätzen und eine zunehmende Vertiefung der Kluft zwischen den Lebenshaltungskosten und der Kaufkraft der Bevölkerung. Diese Situation ist auch verantwortlich für den nicht abreißenden Migrationsstrom, vor allem in die Vereinigten Staaten."

Flüchtlingszug in die USA

Den Zug der Verzweifelten aus Mittelamerika und Mexiko in den verheißungsvollen Norden sieht der Bischof jeden Tag quasi vor seiner Haustüre. 1999 wurde Monsignore Raúl Vera auf Betreiben der mexikanischen Regierung vom Vatikan nach Saltillo, in der Nähe zur US-Grenze, versetzt. 400 bis 500 Menschen kommen jährlich bei ihrer Flucht ums Leben; viele der Glücklichen, denen der gefährliche Grenzübertritt gelingt, werden von der US-Border Patrol geschnappt und zurückgeschafft. Die Ursache dieses Migrationsstromes ist für den Bischof klar: die vom vorherrschenden Wirtschaftssystem verursachte Zunahme der Armut "und, noch skandalöser, die enorme Ungleichheit bei den Chancen der Menschen, an Entwicklung und Fortschritt Anteil zu haben".

Dieser Standpunkt war dem studierten Chemieingenieur, der 1968 in den Dominikanerorden eintrat und 1987 zum Bischof von Ciudad Altamirano im Bundesstaat Guerrero geweiht wurde, nicht in die Wiege gelegt. Er galt lange Zeit als braver, konservativer Kirchenmann. Als solcher wurde er 1995 zum Koadjutor - oder besser gesagt Aufpasser - von Bischof Samuel Ruíz bestellt, dem legendären "Tatic" (Väterchen), wie ihn liebevoll die indigene Bevölkerung von Chiapas nannte.

"Verwandelter" Bischof

Das Schicksal von Bischof Vera, seine "Wandlung", ist eng mit Samuel Ruíz und dem Konflikt in Chiapas verbunden. Von 1959 bis zum Jahr 2000 leitete Bischof Ruíz die Diözese San Cristóbal,.In dieser Zeit entwickelte er sich vom braven Theologen zu einem unerschrockenen Anwalt der Rechte der indigenen Völker und Kritiker der staatlichen Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik. Und zu einem Feindbild der Großgrundbesitzer und Politiker in Mexiko sowie des Vatikans, dessen Nuntius Girolamo Prigione als Interessensvertreter der herrschenden Klasse in Chiapas agierte.

Als Koadjutor mit Nachfolgerecht sollte Vera den unbequemen Bischof von San Cristóbal schrittweise entmachten und schließlich beerben. Doch so weit sollte es nicht kommen, denn bevor Samuel Ruíz im Jahr 2000 aus Altersgründen von seinem Amt zurücktrat, wurde Bischof Vera versetzt - wie erwähnt nach Saltillo, weit weg von Chiapas. Was war geschehen? Der Dominikaner war "den in ihn gesetzten Erwartungen nicht gerecht geworden". Oder: "Die Indigenen haben mich bekehrt", wie Vera seine Entwicklung beschreibt. Die Erfahrung der Armut und Unterentwicklung der indigenen Bevölkerung - und sicher auch das Vorbild von Bischof Ruíz - hatten ihn zu einer "sozialen Lektüre des Evangeliums" geführt, im Gegensatz zu der sonst oft von der Kirche praktizierten "individualistischen Lektüre". Aus dem Aufpasser des Indio-Bischofs war dessen engster Mitarbeiter geworden.

Seither ist Bischof Raúl Vera López in Mexiko als Stimme der Ausgeschlossenen und als Kämpfer für Menschenrechte und gegen soziale Ungerechtigkeit, als Ankläger gegen staatliche Willkür und Machtmissbrauch tätig. Er ergreift öffentlich Partei, unter Einsatz seiner ganzen Autorität. Etwa nach der Explosion in der Kohlenmine Pasta de Conchos im Norden des Landes, bei der 65 Bergleute ums Leben kamen: "Ich eilte hin, sprach mit Familienangehörigen der Opfer. Wir führten eine Untersuchung zur Ursache der Katastrophe durch, wobei sich herausstellte, dass Sicherheitsbestimmungen nicht durchgeführt, Instandhaltungsarbeiten vernachlässigt wurden. Die Todesopfer sind vom Konzern Grupo México, dem Eigentümer der Mine, verursacht." Fazit des Bischofs: "Menschenleben zählen in der globalisierten Wirtschaft nicht."

Bischof hilft Prostituierten

Spektakulär auch sein Einsatz für 14 Prostituierte, die im Juli 2006 im Ort Castaños von 20 Soldaten stundenlang in ihrem Bordell eingesperrt und vergewaltigt wurden. Der Bischof ermutigte die Frauen, Anzeige zu erheben und begleitete den Prozess. Von neun angeklagten Soldaten wurden drei verurteilt. Der Richter war empört über die bischöfliche Einmischung. "Er ärgerte sich sehr über mich und zeigte mich beim Vatikan wegen Amtsmissbrauch und Rufschädigung an."

Serien-Frauenmorde

In der zweiten Maiwoche wurde im Bundesstaat Oaxaca die Indígena María Isabel de Jesús mit Machetenhieben ermordet; sie war Sympathisantin einer Bewegung der Triqui-Ethnie. Einen Monat vorher waren zwei junge Mitarbeiterinnen eines von den Triqui betriebenen Radiosenders namens "Die Stimme, die das Schweigen bricht" in ihrem Auto erschossen worden. Ebenfalls im Mai wurde Berenice García, Polizeikommissarin und Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte gegen Frauen, in ihrem eigenen Haus in Ciudad Juárez, der berüchtigten Stadt der Serien-Frauenmorde, mit 60 Schüssen durchsiebt. Die Täter bleiben so gut wie immer unbekannt - oder zumindest straflos. Der Krieg gegen den Drogenhandel fordert jährlich Hunderte Opfer. Die Gewalt eskaliert in Mexiko wie noch nie.

Bischof Vera wird nicht müde, die Straflosigkeit, die Militarisierung des Landes, die Kriminalisierung der Proteste der sozialen Bewegungen, die Korruption, die Verfilzung von Politik und Drogenhandel anzuklagen. Und die staatliche Wirtschaftspolitik als Kern des Übels: die Deregulierung des Steuersystems zugunsten der Reichen. Von Seiten der Kirchenhierarchie Mexikos erhält der unermüdliche Ankläger der Ungerechtigkeit, der auf Einladung der Steyler Missionare und anderer kirchlicher Institutionen sowie der Mexiko-Plattform Wien besuchte, kaum Anerkennung, dafür umso mehr von den Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen. Und der Kampf des Bischofs für Gerechtigkeit geht weiter, denn "die Verletzung der Menschenrechte in Mexiko beginnt für mich dort, wo einem großen Teil der Bevölkerung ganz bewusst der Zugang zu einem würdigen Leben versperrt wird".

Der Autor ist Redakteur des Südwind-Magazins.

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