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Bürgergesellschaft: Staatsräson statt Aktionismus

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Viele Wähler sehen sich heute als Kunden oder Konsumenten – und nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger mit Rechten und Pflichten. Diese Wandlung hat die Erwartungen und Ansprüche an den Staat verändert. Und weitreichende Folgen für die Demokratie. Ein Gastkommentar.

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Viele Wähler sehen sich heute als Kunden oder Konsumenten – und nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger mit Rechten und Pflichten. Diese Wandlung hat die Erwartungen und Ansprüche an den Staat verändert. Und weitreichende Folgen für die Demokratie. Ein Gastkommentar.

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Das Mantra des liberal-sozialökologischen Konsumenten tönt: „Ich! Ich! Ich!“ Die Verabsolutierung der eigenen Welt gilt als heiliger Gral: Mein Körper gehört mir, ich entscheide, ob ich mich impfen lasse oder nicht, was meinem Mitbürger hilft, berührt mich nicht. Der moderne Wähler entscheidet nur mehr nach Nützlichkeitserwägungen: Was bringt mir meine Stimme? Welche Partei bietet mir am meisten? Diese Konsummentalität zeigt sich neben der schrillen Impfdebatte auch in ordnungspolitischen Themen wie der Energiewende. Statt Fakten und Inhalte werden Gefühle angesprochen: persönliche Betroffenheit, der Impuls, die Welt zu retten und die Gleichsetzung der eigenen Moral mit dem Gemeinwohl haben das politische Feld persönlicher, verständlicher, gefühlsbetonter – aber auch polarisierender gemacht. Doch moralische Entscheidungsfragen und persönliche Befindlichkeiten sind ungeeignet als Grundlage politischer Entscheidungen.

Gemeinwohl statt Nutzenmaximierung

Während der individuelle Nutzenmaximierer sich und seine Bedürfnisse absolut setzt und darüber die Bedürfnisse seiner Mitmenschen vergisst, muss die Politik das Gemeinwohl aller im Auge behalten. Eine Impfpflicht ist unpopulär, aber zum Schutz der Bevölkerung unabdingbar. Dass solche einfachen Wahrheiten mittlerweile provozieren, liegt weniger an der Affektökonomie der algorithmenbasierten Informationsgesellschaft als an der allgemeinen Begriffsverwirrung: Der Mainstream akzeptiert nicht mehr, dass Moral etwas anderes ist als Politik. Parlamente beschließen Gesetze und keine Werte. Moderne moralische Argumentationen, wie sie von NGOs entwickelt und strategisch eingesetzt werden, sind für politische Debatten untauglich, ja sogar schädlich, weil die Vermengung von Moral und Politik willkürliche Entscheidungen begünstigt.

Klassische Moral verpflichtete den Einzelnen nachgerade zum Gegenteil der modernen Instrumentalisierung von Moral. Sie stellte eine Selbstverpflichtung dar und war kein Werkzeug zur Durchsetzung minoritärer Anliegen. Moral formulierte Ansprüche an sich selbst und nicht an andere. In der Covid-Krise ist die Antwort daher einfach: Richtig handelt, wer die Bedürfnisse seiner Mitbürger mitdenkt und nicht sich und seine Bedürfnisse absolut setzt. Wer hingegen Politik moralisiert, verwischt bewusst die Grenzen der beiden Disziplinen und erklärt, wie Herbert Kickl, sein Partialinteresse – Stimmenmaximierung – zur alleinigen Grundlage seines Handelns. Der Freiheitliche „vergisst“ dabei nicht nur die ordnungspolitischen Überzeugungen seiner Partei; er argumentiert in dieser staatspolitisch so sensiblen Frage wider besseres Wissen grob fahrlässig und vorsätzlich faktenresistent.

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