Bulgariens Angst vor türkischem Joch

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Die Europawahlen stehen vor der Tür, und ein Schreckensbild beschäftigt die Gemüter in Bulgarien: Vor einem neuen türkischen Joch wird gewarnt, die langsame, aber sichere Assimilierung der veralternden bulgarischen Nation wird drohend an die Wand gemalt. Die Warnung kommt von der radikalnationalistischen Partei Ataka. "Nein dem EU-Beitritt der Türkei" ist die Hauptlosung, mit der sie kräftig auf dem Wahlschlachtfeld ausholt. Die Türkei soll sich für Genozide am bulgarischen Volk vom 14. Jahrhundert an entschuldigen und dafür mindestens 50 Milliarden Euro Kompensationen an Bulgarien zahlen, fordert Ataka-Parteichef Volen Siderov.

"Brüder und Schwester", trommelt er bei jedem Auftritt, "was bedeutet für uns der Beitritt der Türkei in die EU?" Und er antwortet mit einer Rechnung: "In der Türkei leben über 70 Millionen Menschen. Nach einem EU-Beitritt wird die muslimische Türkei die meisten Sitze im Parlament bekommen und damit bestimmen, was in der EU passiert und was nicht. Und ich sage euch, was die Türkei damit machen wird: Moscheen bauen, da wo es sie noch nicht gibt; und Minarette anbringen - bis an den Eiffelturm!"

Ataka: Mitglied im EU-Rechtsradikalenklub

Keine neuen Drohszenarien aus der alten Schublade der Populisten; nicht originell, aber stimmig für eine politische Kraft, die, seitdem Bulgarien 2007 EU-Mitglied geworden ist, ihren sicheren Platz in der Familie der europäischen Rechtsradikalen einnimmt. Im Vorfeld der EU-Wahlen gehört es in diesem Umfeld zum guten Ton, Angst vor der muslimischen Invasion einerseits und der Globalisierung andererseits zum machen. Sollte man also der von Ataka verbreiteten antitürkischen Stimmung überhaupt viel Beachtung schenken?

Ja, denn laut einer Erhebung der Nichtregierungsorganisation "Open society" stehen mehr als die Hälfte der Bulgaren einem EU-Beitritt der Türkei skeptisch gegenüber. Und Ataka, die jetzt viertstärkste bulgarische Partei im Europaparlament ist, dürfte nach den Wahlen auf den dritten Platz vorrücken. Einen derartigen Zuspruch erreicht man nicht nur mit erhobenen Fäusten und feurigen Reden. Die Feindfiguren, die Ataka zu eigenen Propagandazwecken nützt, entspringen nicht nur rechter Phantasien, sondern sind Spiegelbild realer Ängste vieler Bulgarinnen und Bulgaren.

Im Unterschied zu anderen EU-Ländern, wo die Vorstellung einer Union mit der Türkei immer noch theoretisch ist, hat diese für die Bulgaren einen klaren Bezug zum Alltag. Das jüngste EU-Mitglied ist mit mehr als zwölf Prozent nämlich das Land mit dem größten Anteil an Muslimen in der Europäischen Union. Die ethnischen Türken bilden mit zehn Prozent die größte Gruppe der Minderheiten in Bulgarien. Die Partei "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS), wird von den bulgarischen Türken, den Pomaken und teilweise auch den Roma aus religiösen und kulturellen Gründen gewählt. Bis auf kurze Unterbrechungen ist die DPS seit 1992 in der politischen Führung des Landes vertreten. Deshalb weiß man in Bulgarien, was es heißt, mit den Türken zusammen nationale Politik zu schmieden und parallel dazu EU-Standards etablieren zu müssen.

"Und das sind keine positiven Erfahrungen", sagt der Politologe Ognjan Mintschev, Direktor am Institut für regionale und internationale Studien in Sofia. Er bezeichnet es als einen großen Fehler, der DPS die alleinige politische Repräsentanz der Muslime in Bulgarien zu überlassen. Im Bulgarien nach der Wende wollte man der türkischen Minderheit die politische Teilhabe sichern, so dass sie nie wieder einer zwanghaften Bulgarisierung oder Vertreibung ausgesetzt wäre. DPS-Parteiführer Ahmed Dogan etablierte jedoch ein autoritäres Modell, das auf der klientelistischen Verflechtung von Politik und Wirtschaft basiert. Doch die DPS hätte nicht das Monopol auf die muslimische Minderheit und damit ihren großen Einfluss, ist Mintschev überzeugt, wenn es dafür keine Unterstützung seitens der Türkei gäbe. Kein Posten und öffentlicher Auftrag wird in den DPS-Strukturen nach einem demokratischen Verfahren vergeben. Und die Korruption der Verwaltung breitet sich aus. Als Folge dieser Vetternwirtschaft der regierenden Koalition von Sozialisten, DPS und Zarenpartei wurden letztes Jahr EU-Hilfen für Bulgarien in der Höhe von 500 Millionen Euro auf Eis gelegt.

Gegen quasi-türkischen Staat im Staat

Zweieinhalb Jahre nach dem EU-Beitritt merken die Bulgaren wenig von der Vorteilen dieser Mitgliedschaft - die türkische Minderheit gar nichts. Doch die DPS kann auch bei dieser Europawahl in den eigenen Wahlbezirken wieder mit totaler Unterstützung rechnen. Der soziale Unmut ballt sich hingegen bei den Bulgaren und treibt viele Protestwähler zu den Nationalradikalen. "Die Arroganz in der Verwaltungsweise von DPS in den gemischten Gemeinden von Türken und Bulgaren, die Abkapselung dieser Gemeinden und die Gründung eines quasi-türkischen Staates im Staat führt zu starken Gegenreaktionen, die auch das Bestehen von Ataka ermöglichen", erklärt Mintschev das wechselseitige Verhältnis und bezeichnet Ataka als das Spiegelbild der DPS.

Die Frage ist jedoch: Was bedeutet das verunglückte politische Zusammenwachsen zwischen Bulgaren und Türken in Bulgarien für eine eventuelle europäische Zukunft offener Grenzen mit der Türkei? Doch jetzt sind vor allem einmal Wahlen, und die siamesischen Zwillinge Ataka und DPS wühlen in den Minenfelder der Vergangenheit, holen die Leichen der anderen aus dem Keller. Die Drohung vor dem zweiten türkischen Joch oder einer neuerlichen Zwangsbulgarisierung sind dann schnell allgegenwärtig - und machen auf beiden Seiten Angst.

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