Charme der Kleinheit

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Die "Esterhazy-Stadt", Landeshauptstadt seit 1925, hat mittlerweile gelernt, zu kultivieren, was sie hat und nicht mehr sein zu wollen, als sie ist.

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Die "Esterhazy-Stadt", Landeshauptstadt seit 1925, hat mittlerweile gelernt, zu kultivieren, was sie hat und nicht mehr sein zu wollen, als sie ist.

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Die Landeshauptstadt des Burgenlandes, des jüngsten österreichischen Bundeslandes, ist die kleinste unter den Hauptstädten und wohl auch die am wenigsten urbane, was vorerst aber nicht unbedingt ein Nachteil sein muß. Die Kleinheit birgt in sich sehr viel Charme, viel Anmut. In der Kleinheit kann man sich alte Reize, die noch aus der klassischen Zeit der Esterhazy, aus der Zeit der großen Hofkapellmeister Gregor Joseph Werner, Joseph Haydn und Johann Nepomuk Hummel stammen, liebevoll bewahren. Eine Stadt mit etwa zehntausend Einwohnern (die eingemeindeten Vorstädte schon dazugerechnet) kann sich noch auf Details besinnen und dem Gast, aber auch den beruflich hier Absteigenden, Kurioses neben Weltbewegendem aus der Geschichte anbieten. Die Frage ist nur, wie der Eisenstädter von heute mit der kulturellen Erbschaft hier leben kann, ohne das eine (die Gegenwart) oder das andere (das historische Erbe) allzu schnell aus den Augen zu verlieren. Diese Problematik stellt sich aber vielen Stadtbewohnern Mitteleuropas.

Der Bürger- und Bauernsiedlung Kismarton war es nicht vorherbestimmt gewesen, einmal die Hauptstadt eines Landes zu sein. Und wie dieses Burgenland 1921 im Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg künstlich aus Abschnipseln mehrerer westungarischer Komitate zusammengekleistert wurde, so mußte man für dieses Land letztendlich (ähnlich künstlich) eine Hauptstadt aus dem Hut zaubern, denn die Städte waren nicht zu diesem Burgenland gekommen, sondern bei der Tschechoslowakei (Preßburg/Pozsony/Bratislava) oder bei Ungarn (Ödenburg/Sopron) geblieben. Die "Städte" des Landes waren größere Dörfer. Zuerst verwaltete man das Burgenland von Bad Sauerbrunn aus, erst 1925 entschied man sich endgültig für eine Landeshauptstadt Eisenstadt, wobei der kulturelle Vorsprung dieser Kommune, die Tatsache, daß sie auch den Esterhazy als Zentrum gedient hatte und der Rang als Freistadt den Ausschlag gegeben hatten (im Oktober 1648 verlieh Ferdinand III. Eisenstadt den Titel "Freistadt"; man feiert demnächst also den 350. Jahrestag der Ernennung). 1925 fand man freilich keine städtische Infrastruktur vor, wie ja das ganze Bundesland seine geografische, gesellschaftliche und kulturelle Homogenität (wir nennen das heute: Identität) erst zu suchen hatte. Das Defizit von 1921 merkt der aufmerksame Gast auch heute noch, denn 77 Jahre sind vor der Geschichte keine Zeit. In diesem Jahrhundert wurde zwar vieles geschaffen, vieles aufgeholt. Aber die Rückschläge waren auch Realität. So löste Hitler im Oktober 1938 das Burgenland auf, schlug den Norden zum Gau Niederdonau und den Süden zur Steiermark. Wieder wurden - man denke nur an die Verkehrssituation - Strukturen anders gewichtet und anders realisiert.

Ein auch heute stark beklagter Umstand ist die Tatsache, daß Eisenstadt nicht gerade leicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. Das hat seine Gründe: Vor 1921 war die Notwendigkeit, Eisenstadt bequem zu erreichen, nicht gegeben. Die verkehrstechnische Verknüpfung der einzelnen burgenländischen Landesteile ist erst in den sechziger Jahren gelungen, und da nur auf dem Sektor Straße. Die "Öffentlichen" haben eine wirkliche Burgenland-Route noch nicht zusammengebracht, wie ja auch eine Eisenbahnlinie "von Kittsee bis Kalch" nicht denkbar ist. Damit haben wir aber schon ein Problem angesprochen, das den Eisenstädtern unter den Nägeln brennt. Hier befindet sich die einzige Landeshauptstadt, die nicht an den großen Verkehrsflüssen dieses Staates liegt. Bedenklich auch, daß die Landeshauptstadt manchem Burgenländer (man denke an die Bezirke Jennersdorf oder Güssing) wie ein "fernes Land" erscheinen muß. Daß der Verkehr rund um Eisenstadt dennoch gigantisch und seit der Ost-Öffnung 1989 manchmal unerträglich stark geworden ist, hat Eisenstadt mit einer Umfahrung der Stadt gelöst.

Hoffentlich wird sie aber in kultureller, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht nicht ähnlich "umfahren". Die Nicht-Urbanität des Burgenlandes hat nämlich ihr gesellschaftliches Spiegelbild in der Bildungswirklichkeit und in den institutionellen Möglichkeiten Bildung zu erwerben. Bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sprach man im Burgenland von der "Schulschande". Man hat inzwischen aufgeholt. Es gibt keinen Bezirk ohne Höhere Schule. Es gibt die speziellen Berufsbildenden Höheren Schulen, in Eisenstadt gibt es eine Pädagogische Akademie und eine Fachhochschule. Eisenstadt, die Kleinstadt mit insgesamt 10.000 Einwohnern, wird als Landeshauptstadt und Verwaltungszentrum des Bundeslandes und des politischen Bezirkes Eisenstadt, sowie als Schulstadt an Werktagen von etwa so vielen Menschen angefahren wie es Einwohner hat. Das bringt Leben in die Stadt und Kaufkraft, denn viele Tagespendler kaufen auch hier ein. Ist es aber ein wirkliches Leben, das sich dadurch ergibt, oder nur ein Leben von 7 Uhr 30 bis 17 Uhr? Haben kulturelle Veranstaltungen etwas von diesem pulsierenden Leben oder stirbt die Stadt ab 18 Uhr mehr oder weniger aus?

Kulturelle Aktivitäten hatten es früher sehr schwer, ähnlich wie die - außerhalb der Stadt, etwa in Wien, ausgebildeten - Intellektuellen. So wie es für speziell ausgebildete Akademiker im Land und in Eisenstadt bis in die siebziger Jahre kaum Arbeitsplätze gegeben hat, gab es bis dahin auch kein breites Publikum, etwa für Literatur oder für wissenschaftliche Diskurse, auch der Umweltschutz und ein moderneres Bewußtsein haben sich erst mit einer zaghaften Urbanisierung in Eisenstadt eingestellt! Die Stadt hat sich, wie das ganze Burgenland, jahrzehntelang intellektuellen Nachwuchs besorgt, indem es die eigenen Begabungen in Wien, Graz oder sonstwo ausbilden ließ und dann wieder ins Land holte, um die medizinischen, juristischen, intellektuellen und Bildungs-Bedürfnisse zu befriedigen. Nicht alle, die außerhalb des Landes studierten, kamen ins Land zurück. So ist diese Stadt bis heute auch ein Begabten-Reservoir für Wien oder andere Städte Österreichs oder Europas. Davon weiß man aber im Land zu berichten, seit es dasselbe gibt und wahrscheinlich auch schon früher. Und so wird es auch bleiben, denn Eisenstadt wird nie Wien, und das ist auch gut so.

Die Stadt hat inzwischen gelernt, das zu kultivieren, was sie hat, und nicht mehr sein zu wollen, als sie ist. Die Esterhazy-Vergangenheit wird bewahrt, man pflegt ihr Image und die von den ungarischen Palatinen geschaffenen Baudenkmäler. Des großen Sohns Joseph Haydn, dem Eisenstadt am Ende seines Lebens ja auch zu klein geworden ist, der sich seinen Weltruhm in London erwerben mußte und der in Wien-Gumpendorf starb, erinnert man sich professionell und nicht mehr nur liebevoll im Stil der Amateure. Die Eisenstädter Haydn-Spiele wollen das für Haydn sein, was Salzburg für Mozart ist, nur eben auf eisenstädtisch, aber deswegen nicht weniger professionell und fundiert. Man entdeckt in der Stadt die ungarische Seite unserer Herkunft und hat vorderhand keine Angst vor dem Anderssprechenden oder Andersdenkenden. Man entdeckt hier, daß Sopron und Bratislava Schwesternstädte sind und daß der Eiserne Vorhang (fast) Gleichartiges von uns getrennt hat. Daß man Angst vor der EU-Osterweiterung hat, sollte ernst genommen und mit den Leuten, die diese Angst äußern, diskutiert werden. Es geht hier nicht darum, das, was jemanden ängstigt, als präfaschistisch abzutun und eine nicht vorhandene Harmonie vorzuspielen.

Daß eine kleine Stadt, die sich auch als Juwel am Südhang des Leithagebirges begreift, liebenswert ist, wundert nicht gerade, daß sie aber bei Umfragen in verschiedenen Disziplinen an erster Stelle steht, durchaus: etwa in Jugendfreundlichkeit. Daß eine Bürgerstadt was für die Jugend übrig hat, ist nicht selbstverständlich.

Eisenstadt ist also eine Stadt zum "Sich-Wundern". Es steckt so vieles in ihr, was selbst der hier wohnende Liebhaber dieser Stadt erst nach und nach entdeckt.

Der Autor ist Professor für Literaturwissenschaft an der Pädagogischen Akademie in Eisenstadt.

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