Chiles 11. September

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Drei Jahrzehnte nach dem Militärputsch und 17 Jahre nach Beendigung der Diktatur ist Chile ein gespaltenes Land. Nur langsam wird der Mantel des Verschweigens und Vergessens gelüftet.

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Drei Jahrzehnte nach dem Militärputsch und 17 Jahre nach Beendigung der Diktatur ist Chile ein gespaltenes Land. Nur langsam wird der Mantel des Verschweigens und Vergessens gelüftet.

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Elfter September 1973, sechs Uhr 20. Ein kalter, regnerischer Morgen in Santiago de Chile. Der chilenische Präsident Salvador Allende wird in seiner Residenz telefonisch gewarnt, dass ein Militärputsch bevorstehe. Mit zwei Dutzend Mann seiner Leibgarde und Familienangehörigen eilt er in den Präsidentenpalast La Moneda. Gegen neun Uhr beginnt die Beschießung des Palais, drei Stunden später das Bombardement aus der Luft. Eine Aufforderung zur Kapitulation, bei freier Ausreise in ein beliebiges Land, lehnt der Präsident ab. "Nur wenn sie mich mit Schüssen durchlöchern, werden sie meinen Willen auslöschen können, das Programm des Volkes zu erfüllen", hatte Allende schon früher gesagt. Gegen 14 Uhr wird er von den Salven der angreifenden Soldaten durchsiebt.

Einen Tag darauf wird Victor Jara, der große Sänger der chilenischen Revolution, gefangen und ins Nationalstadion gebracht, dem ersten Konzentrationslager und Folterzentrum der Putschisten. Nach grauenhaften Foltern, unter denen er immer wieder zum Singen gezwungen wurde, wird das Idol von Millionen Chilenen am 16. September ermordet.

Gedenktafel für Allende

Chile im September 2003. Am 11. September enthüllt Präsident Ricardo Lagos im Moneda-Palast eine Gedenktafel für Salvador Allende - wie er selbst ein Führer der Sozialistischen Partei Chiles - und etwas später eine Statue. Und obwohl Innenminister José Miguel Insulza für diesen Tag ein generelles Verbot von Straßenmanifestationen verhängte, haben die Familienangehörigen von Verschwundenen zu einer Gedenkdemonstration aufgerufen. Am selben 11. September wird das Nationalstadion in "Victor-Jara-Stadion" umbenannt und am Todestag Jaras wird in der Universität Santiago ein Monument des chilenischen Sängers enthüllt.

Das ganze Land fiebert dem 30. Jahrestag des Putsches von General Augusto Pinochet entgegen, der in eine siebzehnjährige Diktatur münden sollte. Doch unter verschiedenen Vorzeichen. Für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung bedeutet dieser 11. September immer noch die Rettung Chiles vor der kommunistischen Gefahr, vor dem drohenden Untergang - und für viele andere ist er der Beginn einer nationalen und oft auch persönlichen Tragödie. Der Gedenktag erinnert sie schmerzhaft an ermordete oder verschwundene Angehörige, an die erlittene Folter, an die Jahre des Exils. Dreizehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind diese Wunden immer noch nicht verheilt und der Hauptverantwortliche für all das Leid wird immer noch öffentlich von seinen Anhängern bejubelt.

"Chicago Boys"

Doch die zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Gedenkveranstaltungen bedeuten keineswegs eine Renaissance jenes friedlichen Wegs zum Sozialismus, den Präsident Allende mit seiner Regierung der Unidad Popular, der Volkseinheit, beschritten hatte. Das heutige Chile ist immer noch ein von jenem 11. September 1973 und von den Siegern des Staatsstreiches geprägtes Land. Die Militärs haben in den langen Jahren ihrer Herrschaft das Land auch in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht völlig umgekrempelt. Noch bevor Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA ihre neoliberale "Revolution" realisierten, setzte die Militärdiktatur mit Brachialgewalt die wirtschaftspolitischen Theorien einer Gruppe ultraliberaler Ökonomen, der "Chicago Boys", in die Wirklichkeit um. Nach schweren Krisen und einem enormen sozialen Zerstörungswerk fand die Wirtschaft ab Mitte der achtziger Jahre zu relativ hohen Wachstumsraten zurück. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik setzten dann, mit gewissen sozialen Abfederungen, auch die drei demokratisch gewählten Regierungen nach dem Rückzug der Militärs in die Kasernen fort.

Weißer Fleck in Erinnerung

Der gesellschaftspolitische Preis dieser radikalen "Modernisierung" von Wirtschaft und Staat war und ist hoch. Die Bevölkerung flüchtete in einen extremen Konsumismus. Auch wenn in der ersten Zeit nach der Diktatur ein neuerlicher Putsch als ständige Drohung im Raum schwebte, schritt die Demokratisierung des öffentlichen Lebens zügig voran. Das führte jedoch keineswegs zu einer Repolitisierung der Gesellschaft. Viele Menschen waren erschöpft, enttäuscht, mutlos. Die Zeit der Unidad Popular mit ihren heftigen politischen Auseinandersetzungen und der völligen gesellschaftlichen Polarisierung entwickelte sich im kollektiven Bewusstsein vieler Chilenen zu einem weißen Fleck.

Die mangelnde Vergangenheitsbewältigung ist ein anderer Schatten, der auf Chile lastet. Die Militärs hatten 1980 eine auf sie maßgeschneiderte - und heute immer noch gültige - Verfassung erlassen und später eine Generalamnestie für ihre Menschenrechtsverbrechen verfügt. Die demokratischen Regierungen ab 1990 wollten den Mantel des Vergessens über die Vergangenheit breiten. Das Ergebnis einer Untersuchungskommission über die Verbrechen der Diktatur, der Rettig-Bericht, nannte keine Namen von Verantwortlichen und wurde schnell archiviert.

Ewiger Spaltpilz Pinochet

Da platzte in diese Atmosphäre des erzwungenen Vergessens wie eine Bombe die Nachricht von der Festnahme Pinochets in Großbritannien im Oktober 1998. Schnell waren die alten Wunden wieder aufgerissen. Das Tauziehen im Auslieferungsverfahren gegen den Exdiktator brachte die Anhänger und Gegner des Gewaltregimes wieder auf die Straße und zeigte die unversöhnlichen Bruchlinien in der chilenischen Gesellschaft. Und es zeigte auch, über welchen Rückhalt Pinochet immer noch in der Bevölkerung und in den Reihen des Militärs verfügt.

Auch wenn der martialische Exgeneral wegen seiner angeblichen Haftunfähigkeit schließlich doch als freier Mann in seine Heimat zurückkehren konnte - die Tatsache seiner Festhaltung im Ausland wirkte in Chile wie ein Sprengmittel gegen die kollektive Amnesie. Die psychologische und juridische Unverletzlichkeit der Militärs hatte damit ein Ende gefunden. Die Justiz begann mit immer größerem Nachdruck gegen Militärangehörige zu ermitteln, wobei neben schweren Menschenrechtsverletzungen das Schicksal der Verhaftet-Verschwundenen im Mittelpunkt steht. Durch die Interpretation des Verschwindenlassens als unbeendetes Verbrechen konnte das Amnestie-Gesetz der Militärs umgangen und eine rechtliche Basis für Prozesse gefunden werden. Vor wenigen Monaten wurden fünf führende Mitglieder und bekannte Folterer des Geheimdienstes der Diktatur zu hohen Haftstrafen verurteilt.

11. 9.: Tag der Versöhnung?

Die von mehreren Korruptionsskandalen geschwächte Regierung von Ricardo Lagos, die rechte Oppositionspartei unter Joaquín Lavín und selbst das Militär wollen den 11. September 2003 als Tag der nationalen Versöhnung feiern, während Menschenrechtsorganisationen und Angehörige der Opfer der Diktatur eine Aufklärung und Verurteilung der begangenen Verbrechen fordern. Die sozialistische Verteidigungsministerin Michelle Bachelet, deren Vater von den Militärs ermordet wurde und die in den letzten Jahren der Diktatur die bewaffnete linksextreme "Frente Patriótico Manuel Rodríguez" unterstützt hatte, will zum Jahrestag die Tradition des Runden Tisches, eines politischen Gesprächsforums, wiederbeleben.

Hinter den Kulissen wird in Chile auch über ein Schlusspunkt-Gesetz diskutiert. Völlig anders als beim Nachbarn Argentinien, wo vor kurzem ein derartiges "Punto-final"-Gesetz, mit dem sich die Diktatur Straffreiheit gesichert hatte, vom neuen Präsidenten Nestor Kirchner aufgehoben wurde. Binnen kürzester Zeit wurden daraufhin eine Reihe von mutmaßlichen Tätern der staatlichen Repression verhaftet und angeklagt. Eine solche konsequente Geschichtsaufarbeitung ist in Chile auch 30 Jahre nach dem blutigen 11. September 1973 nicht möglich. Da belässt man es einstweilen noch beim Enthüllen von Statuen und Gedenktafeln.

Chile-Veranstaltungen:

Fr,12. 9., 19 Uhr: Sigrun und Herbert Berger präsentieren ihr Buch "Solidarität mit Chile", Musik von Pato Díaz.

Mo, 15. und Di, 16. 9., 20 Uhr: Patricio Guzmáns berühmte Film-Trilogie "Die Schlacht um Chile".

Mo, 29. 9., 20 Uhr: Podiumsdiskussion zu den Entwicklungen in Chile.

Alle Veranstaltungen im 7*Stern,

Siebensterngasse 31, 1070 Wien.

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