Clemens Martin Auer - © Foto: APA / Robert Jaeger

Coronapolitik: "Wir haben Millionen Leben gerettet!"

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Covid-19 war ein Jahrhundertschock. Wie haben ihn jene erlebt, die Verantwortung getragen haben? Ein persönlicher Rückblick des damaligen Impfkoordinators Clemens Martin Auer - als Beitrag zur Aufarbeitung.

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Covid-19 war ein Jahrhundertschock. Wie haben ihn jene erlebt, die Verantwortung getragen haben? Ein persönlicher Rückblick des damaligen Impfkoordinators Clemens Martin Auer - als Beitrag zur Aufarbeitung.

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Wer mich fragt – als jemanden, der sowohl national als auch international von Anfang an mittendrin war in der Krisenbewältigung der Covid-19-Pandemie –, ob ich im Jänner 2020 wusste, was auf uns zukommt, dem muss ich klar antworten: nein. Ich wusste, dass das Virus tödlich ist und es gefährlich werden könnte. Aber ich wusste im Jänner 2020 nichts über das Ausmaß, das über die Welt hereinbrechen würde.

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Ich saß Mitte Jänner 2020 in Genf im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation. Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus kam gerade aus China zurück und berichtete, dass die chinesischen Behörden weitgehend kooperieren würden und sie die Lage im Griff hätten. Desgleichen versicherte der Botschafter der Volksrepublik. Tatsächlich haben die chinesischen Behörden die relevanten Informationen über das Virus übermittelt, es gab das erste von der WHO freigegebene PCR-Testprotokoll. Das klang beruhigend – und mit diesem Wissenstand zur Hand gab es keinen Anlass, weiterführende Entscheidungen auf der globalen Ebene zu treffen. Wir debattierten eher die Frage, ob Taiwan oder die Volksrepublik zuerst das E-Mail an die WHO geschickt hatte, um auf den Umstand einer sich rasch ausbreitenden Virus-
erkrankung hinzuweisen.

„Weltwunder“ rasche Impfung

Was für eine Fehleinschätzung, denn plötzlich ging alles sehr schnell: Der WHO-Generaldirektor erklärte die neue Viruserkrankung am 30. Jänner 2020 zu einer Gesundheitskrise von weltweiter öffentlicher Bedeutung, da sich das Virus bereits in 20 Ländern nachweisen ließ. Tedros damals: „Wir benötigen unser kollektives Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen, um die Fragen beantworten zu können, auf die wir keine Antworten haben, und um die Fragen zu identifizieren, von denen wir vielleicht noch gar keine Idee haben, sie stellen zu müssen.“ Wir standen aber am Start einer bisher nie dagewesen wissenschaftlichen Kraftanstrengung: Die Labortechnologie hat in wenigen Monaten enorme Testkapazitäten entwickelt. Die Kliniker haben nach anfänglichen Hickups schnell den richtigen Weg der Intensivbehandlung gefunden. Und die Immunologen haben in kürzester Zeit Impfstoffe entwickelt.

So wenig das Kollektiv der Wissenschaft über die Pathogenität und Ausbreitung des Virus wusste, so muss es als erstes großes Weltwunder des 21. Jahrhunderts gelten, dass wir im Dezember 2020 mit behördlich zugelassenen (!) Impfungen beginnen konnten. Ich selbst bin dankbar, dass ich einen nicht kleinen logistischen und kaufmännischen Beitrag dazu leisten konnte, dass in allen 27 EU-Staaten alle Bürger den gleichen Zugang zu diesen Impfstoffen bekommen konnten. Wir haben damit Millionen Leben gerettet!

Das wissenschaftliche Paradox: Im Alltagsleben haben Epidemiologen bis heute mit Lehrbuchempfehlungen aus den frühen 1920er Jahren gearbeitet: Masken tragen, Handhygiene und Abstand halten.

Diese Last, einen Lockdown verhängen zu müssen, ist kaum auszuhalten. Das tut man nicht, weil man einen Willkürakt setzen will.

Der politische Schock der Betroffenheit kam aber mit den ersten Fernsehberichten aus der Lombardei. Die Nachrichten vom todbringenden Virus waren dramatisch. Und die rasche Überforderung des Gesundheitssystems bedrohlich. Mit dem unzulänglichen Wissen über das Virus galt nur mehr ein einziger politischer Grundsatz: Das Sterben verhindern und das Gesundheitssystem retten.

Seit diesen dramatischen Berichten war die Pandemie nicht mehr die alleinige Domäne der Medizin, der Wissenschaft oder der Gesundheitsbehörden, sondern eine der ganz großen Politik. Warum? Weil nur mit drastischen rechtlichen und politischen Eingriffen in die Bewegungsfreiheiten der Menschen das Sterben und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern waren. Und das war die parlamentarisch abgesicherte Praxis in allen westlichen Demokratien.

In Österreich hat Bundeskanzler Sebastian Kurz den Kampf gegen die Pandemie zur Chefsache erklärt. Der Gesundheitsminister (damals Rudolf Anschober, Anm.) wurde als nützlicher Ministrant gerade noch geduldet, weil er mit zunehmender Trittfestigkeit zumindest den redegewandten epidemiologischen Erklärer abgeben konnte. Ich war nahe am Geschehen und hat die Last der Verantwortung selbst verspürt. Aber ich möchte nicht Regierungschef gewesen sein: Diese Last, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lockdown verhängen zu müssen, ist kaum auszuhalten. Das tut man nicht, weil man einen Willkürakt setzen will.

Kurz wollte entsprechend seinem Naturell alles perfekt machen, Österreich in das Musterland der Pandemiebewältigung verwandeln. So gut, so recht. Wir haben in Summe die Pandemie auch gut bewältigt, trotz dass wohl jeder jemanden im weiteren Umfeld kennt, der daran verstorben ist. Aber waren seine Aktionen immer maßvoll? Die überhastete landesweite Testaktion kurz vor Weihnachten 2020? Das Hineinfunken in die Impfvorbereitungen des Gesundheitsministers? Der nachträgliche Ankauf von Impfdosen zu einem Zeitpunkt, da die Lager gefüllt und die Lieferungen ausreichend waren? Objektivierung, Transparenz und Differenzierung, wie sie der Gesundheitsminister etwa mit der Corona-Kommission im Herbst 2020 erreichen wollte, waren nicht das Seine. Im Gegenteil: Seine Pressesprecher wussten, wie man diese Bemühungen lächerlich machen konnte.

Kurz wollte entsprechend seinem Naturell alles perfekt machen. Objektivierung, Transparenz und Differenzierung waren nicht das Seine. Im Gegenteil: Seine Pressesprecher wussten, wie man diese Bemühungen lächerlich machen konnte.

Politisch hat es Lächerlichkeit gegeben, etwa das Sperren der Bundesgärten durch die Landwirtschaftsministerin (Elisabeth Köstinger, Anm.) im Frühjahr 2020, weil sie messerscharf befunden hat, die Leute könnten sich bei den Eingangstoren beim aneinander Vorbeigehen anstecken. Oder wie der Innenminister (Karl Nehammer, Anm.) die armen Polizisten ausschwärmen ließ, um Jogger oder Leute auf Parkbänken auf den rechten Weg zu weisen.

Das Warum der Schulschließungen muss gründlicher angeschaut werden – und nicht allein nur retrospektiv aus der Erkenntnis der negativen Wirkung für die Kinder. Die Schulgemeinschaft vom Minister abwärts, ernsthaft besorgte Eltern und sehr nervöse Lehrende waren anfangs genauso orientierungslos wie Epidemiologen mit ihren Ratschlägen. Die ursprüngliche Absicht war klar: Ansammlungen und damit Übertragungsketten zu vermeiden. Heute wissen wir, dass wir bei den Kids und Lehrenden gleich impfen hätten sollen, um die Risken der Erkrankung zu minimieren.

Unnötige und späte Impfpflicht

Der einzig gravierende politische Fehler war der politische Beschluss der Impfpflicht: Grundsatz- und rechtspolitisch geortete Politiker hätten gewusst und verstanden, dass eine Impfpflicht – trotz allem Gezerre von Expertenmeinungen – immer eine Verletzung der Unversehrtheit des Körpers bedeutet und ausführlich begründet werden muss. Noch dazu bei dieser Covid-Impfung, die eine Übertragung der Krankheit nicht verhindert, sondern lediglich mildert. Die Debatte war unnötig und vom Zeitpunkt zu spät, weil weit über 70 Prozent der vernünftigen Bevölkerung sich von sich aus impfen lassen hatte oder bereits genesen war.

Bei nachträglicher Beurteilung all dieser Maßnahmen soll eines nicht vergessen werden: An Covid-19-Infektionen sind im ersten Jahr viele (!) Menschen gestorben. Mit unserem aktuellen Wissen und den Erfahrungen, die wir alle gemacht haben, ist die Situation in den Jahren 2020/21 sicher nicht zu bewerten. Dümmliche Rechthaberei ist intellektuell peinlich. Ich kann jedenfalls für mich sagen, dass mein ethisches Motiv ganz einfach war: Ich wollte Schaden von Menschen abwenden und das Risiko, zu erkranken und vielleicht sogar zu sterben, minimieren.

Der Autor (unter Erhard Busek und Wolfgang Schüssel Leiter der Politischen Abteilung der ÖVP) war 2005 bis 2018 Sektionschef im Gesundheitsministerium sowie zur fraglichen Zeit dort Sonderbeauftragter für Gesundheit und Mitglied im Exekutivrat der WHO. 2020 hat Clemens Martin Auer der EU-Verhandlungsgruppe zur Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen angehört. Im März 2021 musste der Spitzenbeamte nach massiver öffentlicher Kritik durch Sebastian Kurz als Impfkoordinator gehen. Im Juni 2021 wurde Auer in den Vorstand des WHO-Exekutivrats gewählt. Seit Oktober 2022 ist er zudem wieder als Konsulent für das Gesundheitsministerium tätig.

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