Das Aufwachen aus Großmachtträumen

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Die Bilder und Nachrichten vom Krieg im Kosovo rufen zunehmend zwiespältige Gefühle hervor. Sollen Massaker aus der Luft die Antwort auf Massaker auf dem Boden sein?

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Die Bilder und Nachrichten vom Krieg im Kosovo rufen zunehmend zwiespältige Gefühle hervor. Sollen Massaker aus der Luft die Antwort auf Massaker auf dem Boden sein?

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Zum Frühstück kommen aus dem Radio die Berichte von den Zerstörungen in serbischen Städten. Industrien, Raffinerien, Brücken seien getroffen worden. Zahlen von Verwundeten und Toten, auch der Zivilbevölkerung, werden genannt. Als Nachrichten über einen Zerstörungsprozeß mit Tötungsfolgen sind es Schreckensmeldungen. Insofern die Meldungen damit die Behinderung und Schwächung des serbischen Militärapparats und seiner maskierten Milizen ausdrücken, sind sie Erfolgsmeldungen.

Der Zeitgenosse hat Schwierigkeiten, solche Zerstörungen als Erfolge zu sehen. Rechtfertigt das Ziel solche Mittel zunehmender Barbarei? Man schreckt, da die Attacken noch so wenig Wirkung gezeigt haben, die auch politisch sichtbar würde, vor den zu erwartenden Steigerungen, vor der Eskalation durch die ziel-ungenauen B-52, die "fliegenden Festungen", zurück. Für alle, die Bombenangriffe erlebt haben, ist dieser Krieg einer mit gespaltenen Identifizierungen, den man mit zwei Seelen in der Brust erlebt.

Nachdem man am Abend die Ferienplanung am Meer oder in den Bergen durchbesprochen hat, kommen im Fernsehen die Schreckensbilder von den Flüchtenden, von den greinenden Kindern und den humpelnden, dahingeschleppten Alten. Werden wir im Juli in den Strandsesseln an der Adria oder am Mittelmeer in den Zeitungen die Schreckensbilder betrachten, während hoch in den Lüften die Geschwader "erfolgreich" heimkehren und die Kinder hier unten von uns Eis verlangen?

"Feiger Krieg?"

Um in der inneren Gespaltenheit zu einer eigenen Position jenseits von Selbsttäuschung und opportunistischen Kurzschlüssen zu kommen, mit denen Oskar Lafontaine derzeit wieder Popularität gewinnt, bedarf es einer gewissen Aufarbeitung von zugänglichen Fakten und einiger Erklärungsansätze zu den ethnischen Konflikten, "Säuberungs"- und Ausrottungsversuchen, um sich von dorther zum Krieg, diesem Ungeheuer, einzustellen.

In gewisser Weise wird, was jetzt geschieht, zur Stunde der Wahrheit für Europa. Daß Österreich da involviert ist und durch gewisse Formen von Zögerlichkeit und ein Herumschwindeln um Ecken zum Sonderfall geworden ist, wird man uns demnächst wohl auch ganz offen international sagen. Da hilft auch unsere Spendenfreudigkeit nichts. Vorderhand beschuldigen einmal prominente Sprecher in österreichischen Medien in auffallender "political correctness" die anderen, die ihn auf sich nehmen, eines "feigen Krieges".

Wessen wir zu einer Urteilsbildung bedürfen, ist erstens Vorgeschichte, zweitens Einblick in eingeübte Strategien des "ethnic cleansing", drittens der Vergegenwärtigung von Grausamkeiten und deren Sitz in ethnisch-historischen Vorbedingungen und viertens auch der Reflexionen über das, was geschehen kann, um unschuldiges Blut zu schonen.

Die Wurzeln des Kosovo-Konflikts mit der ersten Stufe seiner Eskalation zu einem europäischen Krieg liegen in den offengebliebenen Enden des Bosnien-Kriegs. Erinnern wir uns: Durch Beiträge von beiden Seiten konnten Bluttaten bei der europäischen System-Revolution 1989 vermieden werden. Der stürmische, aber unerwartet durch eine gut gesteuerte historische Glücksstunde erreichte erste Schritt zum Vereinigungsprozeß Deutschlands geschah nach dem "Fall der Mauer". Während in Mittel- und Westeuropa Integrations- und teilweise auch Versöhnungsprozesse über Nationen hinaus in Fluß kamen, führte in Jugoslawien der Wegfall der kommunistischen Herrschaftsklammer zu Segregationsprozessen. Das industriell teilweise hochentwickelte Slowenien löste sich 1991 aus der serbischen Nutznießung. Dann begann, nach der Verselbständigung Kroatiens, das bosnische Desaster. Die Kroaten wurden von den Serben aus der Krajina vertrieben. Innerhalb von wenigen Wochen "gelang" es serbischem Militär und paramilitärischen Milizen unter Führung paranoider Henkersgestalten wie Dr. Radovan Karadzi'c und General Ratko Mladi'c - während der Westen zusah -, fast drei Viertel des bosnischen Territoriums zu "erobern", wobei zum Beispiel in einer Lagerhalle von Brcko etwa dreitausend Bosnier ermordet wurden, wie W. Honig und N. Both dokumentieren. Schließlich kam es mit NATO-Luftunterstützung zu der von Bosniern und Kroaten "am Boden" effektuierten Wiedereroberung der Krajina. Es geschahen (wenn auch im Ausmaß den Kosovo-Vertreibungen nicht zu vergleichende) Übergriffe gegen die Serben, alteingesessene oder neu hinzugekommene. Es wurden insgesamt an die 150.000 Menschen vertrieben. Erst dieser bosnisch-kroatische Sieg am Boden war die Voraussetzung für die Beendigung des Bosnien-Krieges und für den "kalten Frieden" von Dayton. Als dessen machtvoller Kontrahent posierte, nachdem er seine bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher-Kollegen Karadzi'c und Mladi'c hatte fallen lassen, Slobodan Milosevi'c.

Ehe wir uns aber dem Kosovo-Konflikt zuwenden, sei eine 1991-92 in der Krajina von serbischer Seite gegen die Bosnier zuerst entwickelte ethnische Vernichtungsstrategie beschrieben, die Mark Danner, der an der University of California at Berkely unterrichtet und über detailliertes Material verfügt, folgendermaßen zusammenfaßt: 1. Unter Warnung serbischer Bewohner, die ihre Häuser durch weiße Fahnen markieren, wird die zu säubernde "Zielbevölkerung" durch Artilleriefeuer und wahllose Exekutionen eingeschüchtert und auf die Straßen hinausgetrieben.

2. Rechtsanwälte, Richter, Intellektuelle, potentielle Führer werden herausgesucht und umgebracht.

3. Frauen, Kinder und Alte werden von den Männern zwischen 16 und 60 getrennt, zur Grenze gebracht und außer Landes gestoßen.

4. Die Männer im kampffähigen Alter werden exekutiert und ihre Leichname verscharrt.

Es ist sehr wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, daß dies ein lange vor der Eskalation des Kosovo-Konflikts von den serbischen Milizen außerhalb des Kosovo eingeübtes Modell war und 1991-1995 im Bosnien-Krieg mehrfach praktiziert wurde.

Für den Kosovo-Konflikt ist ein Satz von Richard Holbrooke, dem man "Primär-Erfahrung" nicht absprechen kann, eine sehr treffende Charakterisierung: "The longfeared crisis in Kosovo was postponed, not avoided". Die Geschichte ist uns allen nur zu bekannt, als daß sie hier referiert werden müßte. Die Anwesenheit der nicht-bewaffneten Beobachter brachte die von Holbrooke angesprochene Verschiebung, allerdings nicht die Vermeidung.

Vorschläge zum Dinner Bill Clinton war im Sommer 1998 durch die zum "Enthebungs-Putsch" eskalierende Monica-Affäre doch zur "lame duck" geworden und Mrs. Albright wuchs nicht zur Statur eines Henry Kissinger heran. Es gelang ihr nicht, die Russen, die man von US-Seite wirtschaftlich mit Dollar-Milliarden alimentiert, zu einem Minimal-Konsens zu bewegen. Und da begann, als man im Schloß von Rambouillet (um Europa wenigstens symbolisch ins Spiel zu bringen) feine Speisen und um Einbindung der Serben bemühte Ratschläge servierte, das oben geschilderte serbische 4-Stufen-Modell bereits wieder zu laufen. Und es läuft, während diese Seiten geschrieben werden, weiter in Form eines "endgame" (Mark Danner).

Ich möchte einige Beispiele der Dokumentationen aus dem April 1999 herausgreifen: während Albaner in Viehwaggons verladen werden, nachdem man ihnen Geld und Wertsachen abgenommen hatte, beobachtete der Ökonomiestudent Enver Vrajotti (25), wie sein Nachbar, ein Mann zwischen 60 und 70, der sein Haus nicht verlassen wollte, von den Milizen niedergeschossen wird. Selim Popei aus dem Dorf Bela Krusa erklärt am 3. April nach Überschreiten der albanischen Grenze, was am Morgen des 25. März geschehen war: "Sie brachten fünf meiner Kinder um. Der jüngste war 13, der älteste 45. Die anderen waren 32, 22 und 18. Sie töteten auch die Söhne meines Bruders. Ich war 20 Schritte davon entfernt und sah es mit eigenen Augen. Auch die Frauen haben das gesehen."

Morden ohne Ende Bereits im Jänner 1999 war das Morden in vollem Gang. Unbewaffnete Zivilisten wurden nach Berichten der "Kosovo Verification Mission" am 17. Januar verstümmelt aufgefunden. Die Schädelkappe eines Toten fand man einige Meter von der Leiche entfernt, sie war offensichtlich mit einem Spaten abgespalten worden.

Berichte, Dokumentationen sind eines, Erklärungen der Mentalität, Verständlich-Machen des Unverständlichen, sind etwas Zweites, wobei man in Kürze nur andeuten kann.

Innerhalb des alten Jugoslawien hatte der Kosovo durch die Konstitution von 1974 ein Autonomie-Statut, das nach einem "Schrumpfen" von Jugoslawien auf Serbien und Montenegro aufgehoben wurde. Nach einer auf Abstimmung beruhenden Unabhängigkeitserklärung der überwiegend albanischen Bevölkerung des Kosovo wurde diese Erklärung serbischerseits für null und nichtig erklärt. Der einschneidende Reduktionsprozeß Jugoslawiens verschärfte den Beharrungswillen der Serben einem ihnen ethnisch gesehen fremden Territorium gegenüber. Diesen Verlust konnte man serbischerseits bei einem nun ohnehin schon weitgehend unrealistisch gewordenen Großmachttraum keinesfalls mehr hinnehmen. Dazu kam die historische Selbstdeutung. Der Moskauer Patriarch Aleksij II. bestätigte in seiner Osteransprache (!) in Belgrad 1999: der Kosovo sei "das heilige Land der Serben". Welch unselige hierokratische Ermutigung eines blutig-zerstörerisch, verbissenen, serbischen Nationalismus! Dabei sollte man nicht vergessen, daß bei der gegen die Türken am Amselfeld geschlagenen und verlorenen Schlacht nicht nur die Serben, sondern auch die Albaner verloren, die mit den Serben gekämpft hatten.

Religionsmißbrauch und Geschichtsverfälschung sollen einen Anspruch legitimieren, der aggressiv als Kompensation für die irreversiblen Territoriums- und Herrschaftsverluste erhoben wird. Und die in Jahrhunderten ideologie-neutrale und unter dem Sowjetsystem und dem jugoslawischen Kommunismus politisch sterilisierte Orthodoxie legitimiert noch die aus der Einparteienzeit in die Gegenwart hereinragenden "eindeutigen" Führungsstrukturen eines Slobodan Milosevi'c. Das alles nimmt sich wie Zerrbilder düsterer und erstarrter Ikonen aus, die mit finsteren Gesichtern Macht und Drohung abstrahlen.

Kein zweites Vietnam Welche Entscheidungen können nun getroffen werden? Zwei Schlagworte sind irreführend. Das erste, das Amerika mit Angst erfüllt, ist die "Vietnamisierung", jener Prozeß, in dem auf unbekanntem Terrain, durch Widerstand am Boden und Protest in den USA die Supermacht schließlich zum Abzug gezwungen wird. Vietnam war ein relativ großer Bereich mit einer fast durchgehend feindlichen Bevölkerung. Der Kosovo entspricht flächenmäßig der "Greater Los Angeles Area". Feinde sind dort die mehr oder weniger kampfeswilligen serbischen Besatzungssoldaten und die Mörder-Milizen. Mißverständlich ist auch der Begriff eines "Bodenkriegs", da die gegenwärtigen Kriegstechniken und -strategien einschließlich ihrer faktischen Umsetzung erfolgversprechend nur mehrdimenisonal operieren. Der zentrale Bereich des Kosovo liegt etwa 120 km von der albanischen Grenze entfernt. Es kann sich ja nicht um in Sturmformationen gegen Serbenbunker vorgehende NATO-Infanteristen handeln. Bei allen zu berücksichtigenden Schwierigkeiten (Gegen-Grausamkeiten, Clanrivalitäten usw. ) des Einsatzes von UCK-Kämpfern am Boden spitzt sich jetzt doch die Frage darauf zu, wo und wie das größere Desaster, die schwersten Menschenopfer zu vermeiden sind. Aus der Luft etablierte und geschützte bzw. versorgte, nach strategischen Überlegungen festungsartig angelegte Stützpunkte der NATO im Kosovo müßten militärisch als Vorstufe zu einer Befriedung und zum Stop der Massaker und Vertreibungen dringend überlegt werden. Ist es nicht klar, daß mit einem wie immer auch propagandistisch abgeschirmten, schleichenden Rückzug oder Abbruch des Eingreifens der NATO ein ganz zentraler und leitender Aspekt der befriedenden Einigung Europas und überhaupt der Glaubwürdigkeit des "Projekts Europa" verloren ginge?

Auch wir Österreicher sind im langen geschichtlichen Rückblick seit 1918 eine Rumpf-Nation. Im Jahr 1938 hat beim "Anschluß" wohl auch die kompensatorische Identifizierung mit einer Großmacht, Hitler-Deutschland, eine Rolle gespielt. Aus Großmachtträumen muß man aufwachen. Die Europäisierung des Balkan wird eine Jahrhundertaufgabe der Schmerz- und Haßverarbeitung, und sie wird uns viel Steuergelder kosten. Für Menschenrechte muß man bar zahlen, auch wenn die schmerzgeborenen Ideen vielleicht noch wichtiger sind, um Wege in eine neue Europa-Welt zu finden.

Die Überwindung der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, den Weg zu Bündnissen mit neuen Verantwortungen haben wir uns ohne Bomben auf Städte von Ländern vorgestellt, deren Machthaber nicht verhandeln wollen. Massaker aus der Luft sollten nicht die Antwort auf Massaker am Boden sein. Militärische Phantasie ist gefordert, und die Beruhigung Rußlands in seiner Angst, eingekreist zu werden, ist zu leisten.

Der Autor ist Soziologe in Wien.

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