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Das letzte Hintertürchen ist zu

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Die Verteilung der 22 Milliarden Schilling Pflegegeld klappte bisher wider Erwarten so gut, daß nun sogar ein Klagerecht darauf eingeräumt wird. Aufbessere Pflegebedingungen warten viele Bezieher hingegen immer noch.

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Die Verteilung der 22 Milliarden Schilling Pflegegeld klappte bisher wider Erwarten so gut, daß nun sogar ein Klagerecht darauf eingeräumt wird. Aufbessere Pflegebedingungen warten viele Bezieher hingegen immer noch.

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Keine der zuvor gewälzten Horrorszenarien wurde Wirklichkeit, zumindest in den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten des Pflegegeldgesetzes (siehe Kasten unten): Statt der befürchteten zusätzlichen Massen waren es kaum mehr als die in den Sozialämtern ohnehin registrierten Empfänger des Hilflosen-zuschusses, die sich - wie geplant -um das damals neue Bundespflege-geld bewarben. Erstzulassungen waren es nur schwache 17.000. Bei einer Gesamtsumme von rund 260.000 Beziehern im Dezember 1993 bedeutete das einen Anteil von kaum sechs Prozent. Was letztlich auch die Gesamtkosten des Pflegegeldgesetzes in dem zuvor kalkulierten Bahmen hielt (rund 22 Milliarden Schilling 1994).

Die Sozialversicherungen, die mit der Abwicklung der Angelegenheit betraut wurden, konnten alle ihre Zu-satzkosten locker dem Bund verrechnen. Es wurde nicht so teuer wie befürchtet: Die 127 Millionen Schilling an Verwaltungskosten für das Bun-despflegegeld - das sind 0,8 Prozent der Gesamtkosten - zahlte der Finanzminister mit links und griff nicht, wie von den Sozialversicherungen befürchtet, auf sein vorsorglich verankertes Becht zurück, bei Kostenüberschreitung eine (niedrigere) Pauschalvergütung zu leisten.

Und auch die Bearbeitungsfristen für die Anträge hatten sich auf erträgliche runde drei Monate eingependelt. Die Sozialversicherungen schlössen einfach die notwendigen

Beraterverträge mit den Ärzten ab -anstatt daß, wie befürchtet, endlos um jeden Groschen und jeden Handgriff an Pflegeaufwand gestritten wurde. Die Bechnung, keine neuen Gremien zu schaffen, sondern Einrichtungen des bestehenden Beamten- und Sozialstaats zur Abwicklung des Milliarden-Dings heranzuziehen, ist offensichtlich aufgegangen. Verglichen mit dem Streß der ersten Tage machte sich richtiggehende Zufriedenheit bei den Sozialpolitikern breit.

So breit, daß sich das Parlament nun dazu durchgerungen hat, das letzte, aber formal schwerwiegende Hin-tertürl in der teuren Pflegegeldregelung doch noch zu schließen; früher als geplant sogar: Den Bechtsan-spruch auf die hoch bezahlten Stufen drei bis sieben, der den Empfängern bisher vorenthalten wurde. Nicht, daß eindeutige Fälle nicht schon bisher dort zu finden gewesen wären. Nur die rechtliche Garantie darauf zu geben, erschien dem Gesetzgeber aber bis jetzt zu brisant. Jemand, der sich nach der obligaten ärztlichen Begutachtung also seiner Meinung nach zu Unrecht in einer zu niedrigen Stufe zwischen drei und sieben vorfand, konnte sich bis heute darüber nirgendwo bei Gericht beschweren.

Doch seit 1. Juli hat jeder Pflegegeldbezieher die Möglichkeit dazu. Und damit dürften die Zeiten der reibungslosen Verteilung wohl doch vorbei gehen - auch wenn die Neuregelung nicht den Untergang des österreichischen Sozialnetzes bedeutet. Aber alle kleinen Unsicherheiten in den Gesetzestexten, die auch bisher schon die wirkliche Zufriedenheit mit der Begelung verhinderten, werden sich ab nun verstärkt auswirken.

Gleich zu Beginn hatten sich die Bichter zu Wort gemeldet. „Ohne die erforderliche Anzahl an Bichtern sind die Erledigungsinfarkte nun vorprogrammiert”, malt etwa der Präsident der Bichtervereinigung, Josef Klingler, die düstere Aussichten des personellen Engpasses vor Gericht an die Wand.

Und tatsächlich könnte da der Arbeitsaufwand massiv steigen: So wie bisher hin und wieder etwa die Besitzer von Pflegeheimen ihre Bewohner geschlossen für die staatliche Unterstützung angemeldet hatten, könnten sie ab nun geschlossen die Umstufung •ihrer Pfleglinge in eine höhere Stufe einklagen. Der Anreiz dazu ist ziemlich hoch, bietet doch genau der Sprung zwischen der letzten, auch bisher schon einklagbaren Stufe zwei mit 3.688 Schilling pro Monat und der nächsten mit 5.690 einen möglichen monatlichen Mehrverdienst von über 50 Prozent.

Daß der Drang zu höheren Einstufungen vorhanden ist, zeigt auch die schleichende Entwicklung in den letzten zwei Jahren. Waren es zu Beginn noch 76 Prozent, die in die Stufe zwei eingestuft wurden - das ist jene, die dem ehemaligen Hilflosenzu-schuß entspricht - so reduzierte sich dieser Anteil auf 58 Prozent im April 1995. Die Differenz wanderte schon bisher überwiegend in die höher dotierten Stufen, noch ganz ohne Bechtsanspruch darauf (siehe Graphik).

Daß mit dem Ansteigen der Um-stufungsanträge und deren Einklagbarkeit auch der medizinische Begutachtungsaufwand größer wird, ist unschwer zu folgern. Und das wiederum wird den Bearbeitungszeitraum mit Sicherheit wieder in die Länge ziehen. 118.000 Umstufungs-anträge langten bisher bei den Sozialversicherungsträgern ein, die bis auf 10.000 bereits abgearbeitet waren. Der Berg wird wieder wachsen, die Wartefristen steigen. Es ist zudem nicht schwer auszurechnen, daß die Kosten des Gesetzes nach der Einführung des Bechtsanspruches doch noch über das budgetär verträgliche Maß hinaus wachsen könnten. Alleine die geplante Wertanpassung der Tarife an die Inflation um 2,8 Prozent wird einen Mehraufwand von 500 Millionen Schilling zur Folge haben. Auch andere kleine Anzeichen deuten darauf, daß der reibungslose Verteilungsfluß der im weltweiten Vergleich tatsächlich großzügigen Unterstützung pflegebedürftiger Personen in Zukunft doch zum Stocken kommen könnte. Eine Beihe von Urteilen des Obersten Gerichtshofes etwa über das Ausmaß der notwendigen Pflege zeigen Beschränkungstendenzen auf. AK-Expertin Monika Weißensteiner kritisiert: „In den einfacheren Pflegebereichen hat sich seit dem Pflegegeld nichts geändert. Im Gegenteil: tägliches Baden, Duschen oder Bücken-Waschen sind nach neuen OGH-Ur-teilen nicht mehr unbedingt jene notwendigen Tätigkeiten, für die Anspruch auf Pflegegeld besteht.”

Weißensteiner wird dabei vom Pflegegeldexperten und Univertitäts-professor Walter Pfeil unterstützt, der in einer Studie für die Arbeiterkammer ins gleiche Horn stößt: „Vor allem müßten die Untergrenzen präziser herausgearbeitet werden, ab wann ein Hilfsbedarf vorliegt.” Sonst liege die Einstufung zu sehr im Ermessen der Behörden.

Das gilt für Pfeil nicht nur für den Mindestaufwand an Pflege, sondern auch für andere Schwachpunkte im Gesetz. So wären etwa behinderte Kinder bis jetzt komplett aus der Pflegegeldregelung ausgenommen, solange sie unter drei Jahre sind. Einfach, weil der Anspruch auf Pflegegeld in den meisten Bundesländern erst ab diesem Alter besteht, in manchen noch später. Daran wird auch der neue Bechtsanspruch nichts ändern.

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