"Das Massaker hat den Prozess radikalisiert“

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Der Weg Ägyptens geht derzeit klar in Richtung Militär-Regime, sagt der deutsche Ägypten-Experte Stephan Roll.

Das Gespräch führte Lucia Reinsperger

Das Militär als stärkster Akteur wird noch radikaler werden, sagt Nahost-Wissenschaftler Stephan Roll über Ägypten. Es wird auch hinter der nächsten Regierung stehen.

Die Furche: Schätzen westliche Medien die jetzige Führung Ägyptens richtig ein, wenn sie sagen, sie sei "schlimmer als unter Mubarak“?

Stephan Roll: Was bisher geschehen ist, geht klar in Richtung Militärregime. Ein einschneidendes Ereignis war die gewaltsame Auflösung der Protestlager in Kairo, wo offensichtlich auch gezielt Menschen getötet wurden (Hunderte tote Mursi-Anhänger durch Einsatz der Sicherheitskräfte am 14. August, Anm.). Diese hohe Zahl an Opfer ist eine neue Dimension.

Die Furche: Sind die Demonstrantengruppen des heurigen Sommers vergleichbar mit jenen vom Jänner und Februar 2011?

Roll: Nein, Anfang 2011 waren die Demonstranten in erster Linie junge, politisch nicht ganz zu verortende Aktivisten, die Mubarak stürzen wollten. Die Muslimbruderschaft war als Organisation bei den Protesten gegen Mubarak nicht so präsent, wobei viele Muslimbrüder als Privatpersonen auf die Straße gegangen sind. Aktuell sehen wir eine Polarisierung innerhalb dieses Protestlagers: Auf der einen Seite sind die Muslimbrüder, die jetzt in der Opposition sind. Auf der anderen Seite sind Teile der aktivistischen Jugend, die das Militär unterstützt.

Die Furche: Wer ist verantwortlich für das hohe Ausmaß an Gewalt - die Muslimbrüder oder Sicherheitskräfte?

Roll: Gewalt geht von allen Seiten aus. Das Massaker bei der Räumung der zentralen Plätze hat allerdings den Prozess radikalisiert. Die neue Militärführung hat sich hierbei absolut unverhältnismäßig verhalten. Ich befürchte, dass sie bewusst auf eine Radikalisierung gesetzt hat, um später mehr Legitimation von außen zu bekommen, um gewaltvoll gegen die Muslimbrüder und andere islamistische Gruppierungen vorgehen zu können. Obgleich nur wenig Militärs an den Aktionen beteiligt waren, das Vorgehen der inneren Sicherheitskräfte, der Polizei und der Geheimdienste, wurde vom Militär gebilligt, wenn nicht gar befehligt. Das Militär war und ist der stärkste Akteur im Land.

Die Furche: Am vergangenen "Freitag der Märtyrer“ waren die Proteste kleiner als in den Wochen zuvor. Schrecken die Verhaftungswellen die Demonstranten ab?

Roll: Ja. Was wir hier sehen, ist den Aufbau eines Polizeistaates. Wenn man weiß, dass die Sicherheitskräfte eine Politik der Nicht-Toleranz und Gewalt fahren, schreckt das davor ab, auf die Straße zu gehen. Die meisten Kader der Muslimbrüder-Führung sind verhaftet worden, das dürfte für die Bruderschaft ein Führungsproblem bedeuten. Obgleich ich nicht denke, dass sie mit diesen Verhaftungen vernichtet werden kann - dazu ist sie zu sehr gewöhnt, sich neu zu organisieren und lokale Führer nach vorne zu stellen.

Die Furche: Sind die internationalen Vermittlungen gescheitert?

Roll: Sie sind erstmal gescheitert, weil die massive Gewalt-Eskalation nicht verhindern werden konnte. EU und USA hatten darauf gesetzt, dass es eine politische Lösung vor Räumung der Protestcamps gibt. Alles deutet daraufhin, dass das Militär diese politische Lösung nicht wollte. Die westlichen Hauptstädte mussten sich eingestehen, dass ihr Einfluss auf die Machthaber am Nil extrem begrenzt ist.

Die Furche: Wie geht es weiter?

Roll: Die Militärführung wird in den nächsten Monaten versuchen, ihre Macht zu konsolidieren. Man wird wenig kompromissbereit auftreten und nicht gewillt sein, mit der Muslimbruderschaft ernsthaft zu verhandeln. Momentan deutet alles auf Versuche hin, ein autoritäres Regime mit einem Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi oder jemand anders zu installieren, aber mit dem Militär im Hintergrund.

Die Furche: Rechnen Sie mit dem Ausbruch eines Bürgerkrieges?

Roll: Das Wort "Bürgerkrieg“ behandle ich vorsichtig, weil es suggeriert, dass wir die gleiche Situation haben werden wie in Syrien. In Ägypten halte ich das nicht für möglich, das Gewaltmonopol ist zu stark beim Militär und dem inneren Sicherheitsapparat. Ich sehe nicht wirklich, wer gegen wen kämpfen könnte - die Macht ist zu ungleich verteilt. Was ich allerdings sehe, ist eine weitere Radikalisierung.

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