"Das Meer ist trocken, doch die Fische leben"

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Hunderttausende vertriebene Kurden fristen in den Slums türkischer Metropolen ein tristes Dasein. Der Haß auf den Staat ist bereits bei den Kindern tief eingebrannt.

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Hunderttausende vertriebene Kurden fristen in den Slums türkischer Metropolen ein tristes Dasein. Der Haß auf den Staat ist bereits bei den Kindern tief eingebrannt.

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In Ümraniye, im asiatischen Teil Istanbuls, drückt sich dem Besucher die Hochspannung auf die Seele. Polizeikonvois patrouillieren durch die Straßen. An allen Ecken eines der Hauptplätze haben sich Soldaten zu dritt, zu viert postiert, bereit, um in Windeseile die Verkehrsadern zu blockieren, um rasch zuzuschlagen, sollte sich eine Menschenschar zum Protest gegen den türkischen Staat erheben. In diesem Gecekondu (Elendsviertel) am Rande der Bosporus-Metropole nämlich leben fast ausschließlich Kurden. Aus den Dörfern des kurdischen Südostanatolien kommen sie, vertriebene, verzweifelte, hoffnungslose Menschen. Wie werden sie reagieren, wenn Abdullah Öcalan, der von vielen als ihr Nationalheld, ihr Robin Hood verehrte Führer der Guerillaorganisation PKK, vom Staat gedemütigt und gebrochen vor Gericht erscheint und - niemand zweifelt daran - wegen Massenmordes zum Tode verurteilt wird? Die Regierung hat schärfste Sicherheitsvorkehrungen zum Hauptprozeß angeordnet, der unter höchst zweifelhaften rechtlichen Bedingungen im Gefängnisgebäude der Insel Imrali im Marmara-Meer begonnen hat.

"Wir (das kurdische Volk) sind sehr, sehr böse", stößt Mecit zornig hervor. Der 30jährige Kurde aus Bekse, in der südostanatolischen Provinz Batman, flüchtete vor drei Jahren mit seiner Familie nach Istanbul. "Eines Tages kamen Gendarmen schwerbewaffnet in sieben Lkw. Sie versuchten, mich zum Kampf gegen die PKK zu zwingen. Ich konnte nicht akzeptieren. Dann setzten sie mein Haus in Brand und das aller anderen Dorfbewohner, die ebenso ihr Volk nicht verraten wollten." Mecit teilt das Los Hunderttausender Kurden, die ihr ganzes Hab und Gut verloren und nun an den Rändern der Städte ein elendes Dasein fristen. Mindestens zwei Millionen dürften es sein.

Hoffnung Öcalan Mecit hegt keine Hoffnung auf eine Rettung "Apos" ("Onkel", wie die Kurden den PKK-Führer nennen). Nun, da die rechtsradikale "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP) nach den Wahlen am 28. April als zweitstärkste Fraktion ins Parlament einzog, erscheint eine Begnadigung Öcalans durch die Deputierten - wie in anderen Fällen von Todesurteilen geschehen - ausgeschlossen, ebenso jedes politische Zugeständnis an die zwölf Millionen Kurden des Landes. Doch selbst Öcalans Exekution, sinniert Mecit, "kann den Kampf um unsere Rechte, um unsere würdevolle Existenz nicht beenden. Hier herrscht Krieg. Die PKK ist ein Komitee, das die Rechte des Volkes verteidigt, und Öcalan ist nur sein führendes Mitglied."

Die Welt schweigt "Das Regime hat die Wochen der Haft in Imrali genützt, um - mit Hilfe von Psychopharmaka - Apos Willen zu brechen. Ein würdeloser, halbverrückter Guerillachef soll vor Gericht dem kurdischen Volk präsentiert werden, als Warnung, daß allen, die ähnliches wagen, ähnliches geschieht", erläutert Öcalans führender Verteidiger, Ahmet Zaki Okcuoglu. Auf diese Weise wolle man Apo jegliche Heldenaura rauben und die Kurden in führerlose Knechtschaft zwingen.

Doch den Willen von Millionen Kurden kann Ankara auf diese Weise nicht brechen. Millionen von Menschen hat der Staat in den vergangenen Jahren durch gnadenlose Repression den Haß auf die Republik Atatürks tief in die Seele gebrannt. In den Elendsvierteln der Städte lodert er fort, genährt durch soziale Hoffnungslosigkeit. Und in den Herzen vieler Kurden lebt die PKK als jene einzige Kraft weiter, die es bis heute gewagt hat, ihre Rechte gegen die Übermacht des atatürkschen Systems zu verteidigen.

Mehr als ein Drittel aller 9.000 Dörfer des Kurdengebietes haben die Sicherheitskräfte seit den frühen neunziger Jahren dem Erdboden gleichgemacht, niedergebrannt, gesprengt, eingeebnet. Flüsse und Seen haben sie verseucht, Vieh abgeschlachtet, Wälder vernichtet. Sie haben dem südostanatolischen Kurdistan damit die landwirtschaftliche Basis geraubt. Den Guerilla der PKK wollten sie auf diese Weise, gleich den Fischen, das Wasser entziehen, Unterschlupf und logistische Hilfe durch die Dorfbewohner rauben. Sie begingen damit Verbrechen an der Menschlichkeit, die jenen Milosevic'' im Kosovo gleichen. Doch hier schwieg die Welt. Der türkische Staat hat sich aber zugleich eine ethnische und eine soziale Zeitbombe geschaffen, die sich durch die Ausschaltung Öcalans keineswegs entschärfen läßt.

"Ankara hat zwar das kurdische Meer trockengelegt, doch die Fische bleiben am Leben", bemerkt der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal bitter. An den Rändern der Städte hausen Hunderttausende Menschen in Plastikzelten, in Ställen, in notdürftig errichteten Hütten, ohne jegliche Infrastruktur. Glücklichere fanden bei Verwandten Unterschlupf, oft zehn in einem Zimmer. Die Bevölkerung Diyarbakirs ist seit 1995 von 300.000 auf 1,5 Millionen angeschwollen - ebenso wucherten andere Städte zu unkontrollierbaren Monstern.

An den mächtigen Stadtmauern tummeln sich Scharen von Kindern. Sie spielen Fußball, rauchen Haschisch, stehlen und sie entladen ungehemmt ihre Aggressionen. Schulen gibt es für diese verlorene Jugend keine. Sie wächst heran im Haß auf den Staat, der ihr die Zukunft verwehrte.

Ob in Diyarbakir, in Adana, Izmir oder Istanbul - überall dasselbe Elend. An einer Hauptstraße von Ümraniye drängen sich nervös Hunderte Männer, Plastikbündel mit ihren Arbeitskleidern unter die Achsel gedrückt. Ein Taxi fährt langsam an ihnen vorbei. Der kritisch prüfende Blick des Fahrers schweift über die Menge. Dann hält das Auto. Dutzende Wartende stürzen sich zu ihm. Doch nur drei - sorgfältig ausgewählt - dürfen einsteigen. Der Fahrer bringt sie zu einer Gelegenheitsarbeit, an eine Baustelle, in einen Betrieb. Geld gibt es nur wenig. Danach aber fragen die Männer nicht. Sie sind schon froh, wenn man ihnen überhaupt eine Chance auf wenigstens ein winziges Einkommen gibt.

Nur wenige der verjagten Kurden finden Arbeit. Ahmet verlor alles in Batman. Der schmächtige, schnauzbärtige Kurde ist Schuster. Mit Politik wollte er nie etwas zu tun haben. Dennoch steht er hier in Istanbul, wie alle seine Leidensgenossen, unter ständiger Beobachtung. "Dreimal schleppten sie mich zur Polizeistation. Schließlich fanden sie meinen türkischen Arbeitgeber und zwangen ihn, mich zu entlassen. Solchen Menschen, drohten sie, dürfe man keine Beschäftigung geben. Der Staat betrachtet uns als seinen Feind, nur weil wir Kurden sind."

Suleyman besaß eine kleine Buchhandlung in einem Istanbuler Vorort. Die Polizei schüchterte potentielle Käufer so lange ein, bis der kurdische Vater von acht Kindern sein Geschäft schließen mußte. "Sie wollen nicht einmal, daß wir uns wirtschaftlich über Wasser halten können."

Ibrahim, der 42jährige Schäfer aus dem Dörfchen Ovalcik in der Kurdenprovinz Tunceli, fand bei Verwandten in Istanbul Unterschlupf. Aus dem Haus, hinaus in die Atmosphäre der Feindseligkeit, wagt er sich selten, vor allem nicht Freitag-nachmittag und Samstag. Zu diesen Zeiten nämlich nimmt die Polizei mit besonderer Vorliebe willkürliche Massenverhaftungen vor, "denn" - so betont ein Menschenrechtsaktivist - "dann kann sie die Opfer ungehemmt über das Wochenende schikanieren. Angehörigen wird erst montags Auskunft gegeben."

Die totale soziale Isolation, der Schock des Verlustes von allem, was sie besessen haben, machen viele dieser unpolitischen Bauern zu gebrochenen Menschen, vom Staat kriminalisiert, nur weil sie Kurden sind und damit automatisch als Sympathisanten der PKK gelten.

Noch mehr Zerstörung Nun, da sich die internationale Gemeinschaft auf Kosovo konzentriert, fühlt sich der türkische Staat noch freier, das kurdische Volk in seinen Grenzen zu schikanieren. "Auch heute setzen die Sicherheitskräfte die Zerstörung der Dörfer fort", klagt Mahmut Özgur, der mit einer Gruppe von Kurden vor zwei Jahren "Göc Der" gründete, eine "Organisation für abgewanderte (vertriebene) Menschen". Seit dem Vorjahr seien in der Provinz Batman mindestens zehn Dörfer niedergebrannt worden, ebenso in Van und in anderen Regionen.

Özgur versucht, mit seiner kleinen Organisation den Vertriebenen wenigstens notdürftig zu helfen - mit Decken, mit Kleidung, mit medizinischer Betreuung. Und dabei geriet er in schweren Konflikt mit dem Staat. "Unterstützung von Terroristen", nennt die Regierung solchen Beistand. Die Polizei stürmt regelmäßig das Istanbuler Vereinsbüro und beschlagnahmt die ohnedies höchst armseligen Hilfsgüter. Gegen die Organisation laufen drei Verfahren wegen "Separatismus". Auch Hilfe internationaler humanitärer Organisationen an diese Menschen verhindert der Staat, unter dem Vorwand der "Unterstützung von Terroristen".

Gleichgültig, was mit Öcalan auch geschieht - die Kurden in der Türkei sind verzweifelt. "Wir leben in einem lodernden Feuer. Der Rassismus nimmt immer radikalere Formen an. Der Staat will uns erledigen", betont Ibrahim. "Wir wollen keinen Krieg, wir wollen eine friedliche Lösung. Doch ich fürchte, die Situation wird immer schlimmer, und dann müssen wir andere Möglichkeiten suchen."

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