"Das muss man pragmatisch sehen"

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Bundeskanzler Alfred Gusenbauer im Furche-Gespräch: "Soziale Chancengerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung zu verwirklichen" nennt er als zentrale politische Herausforderung, die Große Koalition hält er für "besser als ihren Ruf" und die Neutralität für immerwährend.

Die Furche: Herr Bundeskanzler, diese Regierung ist mit dem Versprechen angetreten, die Fehler früherer Großer Koalitionen zu vermeiden und eine Art Große Koalition NEU zu bilden. Was ist denn das Neue an dieser SP-VP-Regierung?

Alfred Gusenbauer: Zum einen glaube ich, dass diese Regierung besser ist als ihr Ruf: es sind unzählige Projekte auf Schiene gestellt worden - in der Bildungs- und Forschungspolitik, in der Armutsbekämpfung, in der Sozialpolitik. Zum anderen, was das Neue betrifft: Früher hieß es immer, in der Großen Koalition werde alles hinter verschlossenen Türen "ausgemauschelt", die Parteien seien nicht mehr voneinander unterscheidbar; das kann man dieser Regierung nicht vorwerfen.

Die Furche: Aber es geht ja nicht darum, ob die Regierung vielleicht doch nicht so schlecht ist, wie alle sagen; sondern darum, ob es etwas gibt, was die Große Koalition besser kann als andere Regierungsformen, woraus sie ihre Legitimation bezöge.

Gusenbauer: Die Frage ist eigentlich müßig, weil die Mehrheitsverhältnisse im Parlament keine andere Zweiparteienregierung zulassen; und alle möglichen Dreiparteienkonstellationen würde ich nicht empfehlen. Aber davon abgesehen meine ich, dass das große Projekt unserer Tage darin besteht, soziale Chancengerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung zu verwirklichen. Das ist eine unglaubliche Herausforderung, an der bisher viele Staaten gescheitert sind.

Die Furche: Halten Sie die Große Koalition prinzipiell für eine zu bevorzugende Regierungskonstellation - etwa weil sie die notwendige Mehrheit für die viel zitierten "großen Projekte" hat, oder weil sie der sozialpartnerschaftlichen Tradition Österreichs am ehesten entspricht?

Gusenbauer: Ich bin gegen jede Überhöhung der Großen Koalition, auch das muss man pragmatisch sehen. Wichtig ist, dass es, anders als in den letzten sieben Jahren, eine sehr konstruktive Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern gibt. Die Sozialpartner übernehmen einen Teil der Aufgaben, die wir uns vorgenommen haben - und das halte ich für sehr gut. Dass die Zweidrittelmehrheit, auf die sich eine Große Koalition stützen kann, bei Fragen, bei denen es einer solchen Mehrheit bedarf, grundsätzlich von Vorteil ist, liegt auf der Hand. Aber wie man an der Ortstafelfrage sieht, bei der sich die ÖVP in der Geiselhaft Haiders befindet, garantiert eine Zweidrittelmehrheit nicht automatisch die sinnvolle Lösung eines Problems.

Die Furche: Viele meinen, das wirklich "große Projekt", welches eine Große Koalition legitimieren würde, wäre die lang diskutierte Staats- und Verwaltungsreform. Wie sieht es damit aus?

Gusenbauer: Ich bin dafür, dass wir diese Reform durchführen - nur brauchen wir dazu nicht nur die Zweidrittelmehrheit im Parlament, sondern auch den Konsens mit den Ländern. Das heißt: alles, was das Verhältnis der Gebietskörperschaften zueinander betrifft, kann der Nationalrat alleine nicht beschließen.

Die Furche: Das heißt, dass Sie skeptisch sind?

Gusenbauer: Ich bin in dieser Frage offen. Es wäre sicher sinnvoll, wenn wir hier weiterkommen …

Die Furche: … aber es ist Ihnen kein Herzensanliegen?

Gusenbauer: Der Punkt ist: Ich sehe viele Möglichkeiten, unsere Verfassung zu verbessern - aber was ich nicht sehe, sind diese gigantischen Summen, die in diesem Zusammenhang immer als Einsparungspotenzial genannt werden.

Die Furche: Sie halten den Föderalismus nicht für zu teuer?

Gusenbauer: Die Experten können leicht sagen, sie sind für die Abschaffung der Bundesländer. Wir wollen das nicht - und die Bevölkerung will das auch nicht. Die Bundesländer sind im Bewusstsein der Leute fix verankert.

Die Furche: Auf die notorischen Vorwürfe, Sie hätten Ihre Wahlversprechen gebrochen, haben Sie immer geantwortet: Hundert Prozent SP-Programm gibt es nur mit einer absoluten Mehrheit, in allen anderen Fällen sind Kompromisse zu machen. Die ÖVP wird sich Ähnliches denken. Wäre es nicht sinnvoll, das Wahlrecht dahingehend zu ändern, dass jeweils eine Partei möglichst hundert Prozent ihres Programms umsetzen kann?

Gusenbauer: Für die Einführung eines Mehrheitswahlrechts sehe ich keine erforderlichen Mehrheiten. Überdies ist es demokratiepolitisch problematisch, per Wahlrechtsänderung Parteien aus dem Parlament zu drängen. Außerdem haben wir erst kürzlich ein Wahlrechtspaket verabschiedet, das beispielsweise die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder die Einführung der Briefwahl und damit eine Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten beinhaltet.

Die Furche: Aber demokratiepolitisch problematisch ist vermutlich auch, was man seit 1986 mit zunehmender Dramatik an Eiertänzen rund um Regierungsbildungen erlebt hat; das hat bei der Bevölkerung wohl auch nicht den Glauben an die Demokratie gefestigt …

Gusenbauer: Das perfekte System gibt es nicht.

Die Furche: Wie die Bundesländer und das Verhältniswahlrecht in der Bevölkerung verankert ist auch die Neutralität. Hans Rauscher hat kürzlich im "Standard" geschrieben: "Ein bisserl eine Lebenslüge, gewiss. Aber die Zeit, sie einzugestehen, scheint noch nicht gekommen." Stimmen Sie dem zu?

Gusenbauer: Ich halte das für einen völligen Unsinn. Die Wahrheit ist doch, dass sich die ganz spezielle österreichische Neutralität, die nach Schweizer Vorbild begründet wurde, in den letzten Jahrzehnten sehr dynamisch und gut - ganz anders als bei der Schweiz - entwickelt hat. Wir haben unsere eigene Art von Neutralität gestaltet: Das hat damit begonnen, dass wir Mitglied der Vereinten Nationen geworden sind, das hat uns nicht gehindert, Mitglied der Europäischen Union zu werden - und es steht auch nicht im Widerspruch dazu, dass Österreich sich an Blauhelm-Truppen oder OSZE-Missionen beteiligt hat bzw. seine Solidarität im Rahmen der Europäischen Union leistet. Der Kern der Neutralität - kein Beitritt zu einem Militärpakt, keine Teilnahme an Kriegen, keine fremden Truppen auf unserem Territorium - steht also nicht im Widerspruch zur geforderten Solidarität.

Die Furche: Wie weit ist der Begriff "Neutralität" dehnbar? Sie haben selbst von einer weitreichenden Entwicklung der Neutralität gesprochen. Könnte es einmal so weit sein, dass nur mehr eine Worthülse übrig geblieben ist?

Gusenbauer: Ich muss da allen selbst ernannten Totengräbern der Neutralität entschieden entgegentreten. Wie hier argumentiert wird, ist intellektuell unredlich. Denn der Beitritt zu einem Militärbündnis wäre mit einer Beistandspflicht, also einem Automatismus, verbunden. Demgegenüber wird jetzt in jedem einzelnen Fall von den österreichischen Institutionen entschieden, ob und wie wir uns an einem Militäreinsatz beteiligen. Im Rahmen der EU kommt dazu, dass ohne unsere Zustimmung die Union überhaupt keinen Einsatz beschließen kann, weil es in diesen Fragen Einstimmigkeitspflicht gibt.

Die Furche: Wie bewerten Sie den Österreich-Besuch von Papst Benedikt XVI.?

Gusenbauer: Der dreitägige Besuch hat viele Menschen berührt und die Verbundenheit des Papstes mit unserem Land gezeigt und gestärkt. Er hat viele Fragen angesprochen, die auch der österreichischen Bundesregierung ein Anliegen sind. Seine optimistische Grundhaltung zur Zukunft ist sicherlich etwas, das Österreich gut tun kann.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

"Einzige Alternative zum Neoliberalismus"

"Leistungsorientierung" - "Chancenorientierung" - "soziale Balance": innerhalb dieses "politischen Dreiecks" verortet Alfred Gusenbauer eine zeitgemäße Sozialdemokratie, wie er im Gespräch mit der Furche erläutert. Und dieses Projekt hält er für die "einzig relevante Alternative zum Neoliberalismus" - wobei er der österreichischen Sozialdemokratie unter seiner Führung durchaus eine Vorreiterrolle bescheinigt. Die Ansicht, der Sozialdemokratie gehe es nur noch darum, den Kapitalismus abzufedern, ihm ein "menschliches Antlitz" zu geben, lässt er nicht gelten; aber dass man "von der Vision allein nicht leben" könne und überhaupt "Dogmatismus" seine Sache nicht ist, macht er auch hinreichend deutlich. Ob "Neoliberalismus" nicht zum Kampfvokabel verkommen sei, bei dem niemand so genau wisse oder auch wissen wolle, was damit gemeint sei? "Neoliberalismus ist der Versuch der umfassenden Deregulierung von Wirtschaft und Gesellschaft", der dazu führe, dass "alle sozialen Ausgleichsmechanismen" wegfallen, so Gusenbauer - kurz: "die größtangelegte Offensive auf den Wohlfahrtsstaat der 70er und 80er Jahre". Auf den Einwand hin, dass eine solche umfassende Deregulierung in Österreich nie stattgefunden habe, meint der Kanzler lapidar: " Zum Glück haben die Wählerinnen und Wähler diesem Projekt nicht länger Zeit gegeben."

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