Das Trauma nach dem Tsunami

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Die Folgen des Tsunamis an der Ostküste Japans sind immer noch sichtbar und spürbar. Reise eines Europäers durch eine verwüstete Zone, die einmal ein blühendes Land war.

Südlich der Millionenstadt Sendai im Nordosten Japans erstreckte sich entlang der Pazifikküste bis zum 11. März 2011 ein fruchtbarer Streifen Land: Reisfelder, Obstplantagen, dazwischen kleine Fischereihäfen und Sandstrände - Ausflugsziele für die Städter. Wüsste man nicht, welche Katastrophe über dieses Land hinweg gerollt war, könnte man sich nicht vorstellen, dass hier bis vor wenigen Monaten Hunderttausende Menschen gelebt, gearbeitet haben, dass Nahverkehrszüge Kinder in Schulen brachten und in Krankenhäusern Babies zur Welt kamen. Auf der notdürftig reparierten Uferstraße erreiche ich Sakamoto. Allein in dieser 1500-Seelen-Gemeinde sind gut 150 Menschen in der todbringenden Welle ertrunken. Heute sind hier nur vom hüfthohen Gras bedeckte Felder zu sehen.

Frau Shimada, eine Ernährungsberaterin im örtlichen Pflegeheim, versuchte mit anderen Angestellten ihre Schützlinge zu evakuieren. Sie hatten nach dem Beben eine knappe Dreiviertelstunde, um sich in Sicherheit zu bringen. Als die Hälfte der Patienten aus dem Heim evakuiert war, holte sie der 13 Meter hohe Wasserwall im 2. Stock des Gebäudes ein. Nur das Schulgebäude konnte den zerstörerischen Kräften standhalten. In den Fenstern im letzten Stock sind dicke Kiefern eigeklemmt. Im Schulhof stapeln sich Hunderte von Autowracks. Kinderzeichnungen hängen an der Pinnwand.

Herr Shimada, ein ehemaliger Gemeinderat, versichert mir, alle Kinder wären rechtzeitig auf dem Dach in Sicherheit gebracht worden. Er kann die genaue Stelle seines Hauses nicht mehr finden. Der Tsunami hat die Küstenlinie verändert, den Schutzwald aus Kieferbäumen weggespült. Nun lebt er mit seiner 84-jährigen Mutter in einer der zahlreichen Übergangsbehausungen.

Vergilbte Fotos

Jede Familie hat Anspruch auf zwei kleine klimatisierte Zimmer. Es ist kein Vergleich zum Leben im Evakuierungszentrum, wo mehrere Hundert Familien in einem Turnsaal ausharren mussten. Herr Shimada kramt ein Paar vergilbte Fotos mit abgerissenen Rändern hervor: Hochzeiten, die alte Mutter mit Enkelkindern in der Küche. Die Bilder und eine Andachtstafel des verstorbenen Vaters sind die einzigen Gegenstände, die sie mit dem Leben vor der Katastrophe verbinden. Freiwillige halfen ihnen, persönliche Gegenstände aus dem Schlamm zu retten. Bis zur Küste sind es wenige Hundert Meter, wir vernehmen das Rauschen der Wellen. Doch ich will diesen Ozean nicht sehen, ich will ihm nicht begegnen, er hat hier, an diesem riesigen Friedhof, seine anziehende, beruhigende Kraft verloren.

Berge von Unrat

Es ist ohnehin kein schöner Anblick. Entlang der Küste ziehen sich endlos Berge von Unrat. Was die Aufräumtrupps aufgesammelt hatten, wird nun in Form von kilometerlangen Wällen aufgeschüttet. Manche Experten fordern, sie als Schutzwälle vor kommenden Tsunamis einzusetzen, andere wollen den Abfall auf andere Präfekturen verteilen.

Das Wichtigste, was die Menschen nun bräuchten, sei jemand, der sie zum Reden bringt und ihnen zuhört, sagt Dr. Kuwayama. Er ist Psychiater und die Tsunami-Welle ist nur wenige Meter vor seiner Klinik in der Stadt Natori zum Stehen gekommen. "Die psychische Situation der Opfer ist schlimmer als direkt nach der Katastrophe. Die Menschen waren anfangs in einer Art "Honeymoon“-Phase, innerlich erregt und sehr aktiv. Nun sind sie aber in eine starke Lethargie verfallen. Das große Problem der japanischen Gesellschaft ist die Unmöglichkeit, sich durch das offene Reden Erleichterung zu verschaffen. Probleme offen auszusprechen wird als Schwäche und Gesichtsverlust angesehen“, erzählt er. "Zwar spricht es niemand offen an, aber die Selbstmordrate ist hier stark angestiegen. Jetzt kommt die Phase, in der sie mit realen Problemen wie dem Jobverlust konfrontiert werden.“ Dr. Kuwayama konzentriert sich nun auf die Betreuung von traumatisierten Kindern. In Schulen betroffener Gemeinden organisiert er psychosoziale Workshops, er hilft ihnen, auf spielerische Art die Erlebnisse zu verarbeiten. Sein Optimismus und Energie wirken ansteckend, seine erfolgreichen Methoden auf dem Weg zur Normalität lassen Optimismus in dieser schwer geprüften Gegend aufkommen.

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