Der anatolische Fremde

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Die Türkei arbeitet derzeit mit verbalen und diplomatischen Ausritten daran, sich als regionale islamische Großmacht zu etablieren. Eine Absage an den EU-Kurs muss das nicht bedeuten.

Der Istanbuler Stadtteil Kasimpa_a ist nicht irgendein Viertel der türkischen Metropole. Ausländer meiden diesen armen Teil der Stadt am Goldenen Horn wegen grassierender Taschendiebstähle und anderer Spielarten der Kleinkriminalität. Doch die Sitten, die in Kasimpa_a regieren und das Zusammenleben von Türken, Juden, Armeniern, Roma und Griechen regeln, haben in ganz Istanbul Achtung und Berühmtheit erlangt. „Racon“ heißt der Verhaltenskodex, der den Jugendlichen aller Rassen und Religionen hier beigebracht wird. Menschen mit „Racon“ sind geradeheraus und tapfer, und sie zeigen das durch die Art, sich zu benehmen, zu gehen, zu sprechen. Im Schreiten muss etwa die rechte Schulter stets etwas nach vorne ragen. Die Sprache sei direkt und aufrichtig – ein Kasimpa_a-Bewohner scheut nicht den Konflikt.

Recep Tayyip Erdoan, türkischer Premierminister, ist in Kasimpa_a aufgewachsen. Man sieht das an seinen Bewegungen und hört es an seiner Sprache. Ein Mann mit „Kasimpa_a raconu“. Er ist zornig, wenn er meint hintergangen worden zu sein – und er ist nachtragend. So wie 2009, als Erdoan erfolglos zwischen Israel und Syrien vermittelte. Israel bedeutete ihm, die Lösung sei nahe, dann begann der Gaza-Krieg. Die Verhandlungen platzten, Erdogan tobte – und er tut es heute noch. Sein Unmut regte sich gerade in den Tagen nach der blutigen Kaperung des türkischen Schiffes „Mavi Marmara“ der „Gaza-Friedensflotte“ durch ein israelisches Militärkommando.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem der Premier nicht vor empörten, Israel-Fahnen verbrennenden Menschenmengen auftritt, und Reden schwingt, die keinen Zweifel aufkommen lassen sollen, dass Erdoan voller Wut und Zorn ist. An die Adresse des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu hieß es vergangene Woche: „Sie sagen wir seien Lügner. Ich sage, Sie sind der Lügner. Die Israelis wissen gut, wie man mordet. “

Freundschaft mit Teheran

Noch eindeutiger als das aber war die Weigerung der Türkei mit dem einst engen Verbündeten USA für Sanktionen gegen den Iran im UNO-Sicherheitsrat zu stimmen. Stattdessen traf er sich mit all jenen Politikern, die nach westlicher Sicht auf der Liste der mutmaßlichen und potenziellen Bösewichte stehen: mit dem Syrer Bashir al-Assad, der der Hamas Unterschlupf gewährt, mit Irans Mahmud Ahmadinedschad, der Erdoan nun auch als „Freund“ bezeichnet, eine Anrede, die sich aus diesem Mund wohl kein anderer westlicher Staatsmann widerspruchslos gefallen lassen würde.

Nun steigt die Sorge in der EU und den USA, die Türkei rücke vom Westen ab und mache sich zum Freund radikaler Islamisten, unterstütze gar terroristische Organisationen und beende generell ihren ohnehin schon erlahmten Reformkurs Richtung Europa. Eugene Kogan, Gastforscher am Internationalen Institut liberale Politik meint: „Die türkische Regierung überzieht in ihrer Reaktion. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sie über die Empörung hinaus noch verborgene Ziele verfolgt.“

Unbestreitbar handeln Erdoan und seine AKP-Partei derzeit entsprechend ihren islamistischen Wurzeln. Erdoan war in den 70er Jahren Anhänger von Ecmetin Erbakan und hing den gesellschaftlichen Prinzipien streng konservativer anatolischer Schichten an. Wer Erdoan heute hört, fühlt sich leicht an den jungen Politiker erinnert, der den „Internationalen Währungsfond“ und die EU als „moderne Mittel des christlichen Kreuzzuges gegen den Islam“ geißelte. Wenn Erdoan heute vom gemeinsamen Wirtschaftsraum mit den islamischen Nachbarn spricht, hält er sich an den Traum des Islamisten Erbakan, der schon in den 70er Jahren von einer ökonomischen Union reicher islamischer Staaten träumte. Doch hat das einen anderen Zweck als bloße Selbstdarstellung? Dass der Demagoge Erdoan auf diesem Instrument zu spielen vermag, bewies er 1999. Da zitierte er öffentlich ein verbotenes Poem: „Unsere Moscheen sind unsere Kasernen, ihre Minarette sind unsere Speere, ihre Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Armee.“ Prompt wanderte er 120 Tage ins Gefängnis – und sicherte sich die Liebe der Massen.

Bloss Theaterdonner?

Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik, der über islamistische Bewegungen in der Türkei das Buch „From Islamists to Muslim Democrats?“ publizierte, meint: „Niemals wird sich die Türkei von Europa abwenden, die wichtigsten Handelspartner Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien gehören alle der EU an.“ Folgt man Günays Argumentation, passen auch wesentliche Grundstrukturen der AKP nicht in das radikale Bild das sie derzeit von sich macht. Die AKP, so Günay, „ist eine nach westlichem Stil agierende Partei, die über die religiösen Motive früherer Gruppierungen weit hinausreicht.“

Tatsächlich vertritt die AKP wie keine islamistische Partei davor das Konzept der Marktwirtschaft – oder wie Präsident Abdullah Gül es kurzfasst: „Wir sind Realisten, keine Träumer.“

Doch auch der Markt und das Wirtschaftswachstum ändern nichts am beharrlichen Bestreben der AKP, die kemalistische Staatsdoktrin durch ein traditionelles, islamisches Gesellschaftsbild zu ersetzen. Das praktiziert sie mit Erfolg, vor allem in symbolischen Fragen. War etwa das Tragen eines Kopftuchs für Politiker-Frauen zu offiziellen Anlässen verboten, spazieren heute die Ehefrauen Güls und Erdoans mit Kopftuch unbehelligt zum Staatsempfang. Die deutsch-türkische Frauenrechtlerin Seyan Acen ist das ein Schlag gegen jahrelange Gleichstellungsbemühungen: „Ich bin sehr pessimistisch, ob die Versprechungen Richtung Demokratisierung ernst gemeint sind. Ich denke die Zeichen stehen eher dafür, dass es nicht ernst gemeint ist.“

Die Hüterin des Laizismus, die türkische Armee, wiederum scheint sich durch die aufgedeckten Pläne zu einem Putsch gegen Erdoan entmachtet. 49 Angehörige der Armee, darunter zwölf Generäle dürften vor einer Anklage stehen. „Diese Affäre hat den Islamisten sehr geholfen“, sagt Politologe Eugene Kogan, „was Erdoan heute zeigt, hat mit moderatem Islamismus jedenfalls sehr sehr wenig zu tun.“

Immerhin: Selbst die Empörung über Israel scheint Grenzen zu kennen. Gleich am Tag „Marvi Marmara“-Massaker rief der empörte Erdoan den türkischen Botschafter, ja sogar die in Jerusalem weilende türkische Fußball-Jugendnationalmannschaft zurück und sagte drei gemeinsame Militär-Manöver ab. Doch am umfangreichen Handelsvertrag und dem Vertrag über die enge Militärkooperation mit Israel, daran rüttelte er nicht. In Kasimpa_a würde man das wohl als „racon“ in seiner eigentlichen Bedeutung nennen: „weise“.

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