Heinz Bude: Der Austausch der Schweigespirale

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In seinem neuen Buch beschreibt der Soziologe Heinz Bude die Macht von Stimmungen. Ein Gespräch über die "allgemeine Gereiztheit", Köln und den Rechtspopulismus.

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In seinem neuen Buch beschreibt der Soziologe Heinz Bude die Macht von Stimmungen. Ein Gespräch über die "allgemeine Gereiztheit", Köln und den Rechtspopulismus.

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Die Stimmung ist gedämpft - nicht nur in Österreich. Doch welche Dynamiken stecken hinter kollektiven Befindlichkeiten? Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, hat dieser Frage in seinem Buch "Das Gefühl der Welt"(s. u.) nachgespürt. Sein Fazit: Es braucht mehr Ehrlichkeit zu sich selbst.

DIE FURCHE: Herr Bude, der Begriff "Stimmung" ist in der Wissenschaft nicht besonders gut beleumundet. Was hat Sie bewogen, sich mit ihm auseinanderzusetzen?

Heinz Bude: Es gab mehrere Gründe. Einerseits hat die experimentelle Ökonomie deutlich gemacht, dass man mit dem rationalen Akteur nicht mehr weiter kommt, wenn man etwa das Herdenverhalten bei Ausbruch der Finanzkrise 2008 erklären will - und ich hatte das Gefühl, dass die Soziologie hier der Ökonomie hinterherhinkt (vgl. S. 6). Und zweitens gibt es in den gesamten Humanwissenschaften diesen emotional turn: Man geht weg von der Vorstellung, dass Menschen rein rational orientiert sind - und zugleich davon, bloße Instinkttheorie zu betreiben. Es geht um eine Zwischenkategorie, um den Menschen als emotional begabtes Wesen. Wir befinden uns in einer Phase des Neudenkens darüber, wie sich Menschen orientieren und wie sie sich zueinander verhalten.

DIE FURCHE: Apropos: Was sagt das Wahlverhalten der Österreicher beim ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl, das schlussendlich sogar den Bundeskanzler zum Rücktritt gezwungen hat, über die Stimmung im Land aus?

Bude: Es sagt uns, dass sich jene anti-elitistische Stimmung, die wir in fast allen europäischen Gesellschaften und vor allem in den USA vorfinden, auch in Österreich deutlich macht. Es gibt offenbar eine Kluft zwischen dem hergebrachten Politikverständnis und den affektiven Bewegungen innerhalb der Gesellschaft selbst. Und die Volksparteien sind nicht mehr in der Lage, diese Bewegungen aufzugreifen.

DIE FURCHE: Sie beschreiben die Stimmungslage als "allgemeine Gereiztheit", die von der Idee einer "Zukunftsverbautheit" beherrscht sei. Aber was ist hier neu? Schlecht ist die Stimmung ja schon länger, wie auch die Titel Ihrer Bücher zeigen: von "Bildungspanik" bis zu "Gesellschaft der Angst" ...

Bude: Es zeigt sich natürlich schon länger, dass sich die Gesellschaft irgendwie anders aufstellt, dass sie ihren ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag verloren hat, den die Volksparteien lange Zeit relativ gut abgebildet haben. Doch jetzt sind diese Prozesse durch ein dominantes Thema verdichtet worden, nämlich die Zuwanderungssituation. Bei vielen ist dadurch die Vorstellung aufgetaucht, dass sich Europa als Festung stabilisieren könne, in der man noch ausmachen kann, was eine lebbare Zukunft ist.

DIE FURCHE: Die Flüchtlingskrise als Katalysator ...

Bude: So ist es. Dazu kommt aber noch etwas Zweites: Wir haben in den letzten Jahren eine zivilisatorische Enthemmung erlebt. Am deutlichsten ist das in den USA, wo etwas ganz Neues auftritt: nämlich die Bekundung von Hass als eine Form der Wiederherstellung von Handlungsautonomie. Es wird immer zu einfach gedacht, wenn man meint, dass wir es nur mit Angst, Duckmäusertum und Zurückgezogenheit zu tun haben. Nein, wir haben es mit einer neuen Art von Selbstdarstellungsdroge zu tun, und das ist der Hass. Es handelt sich hier um eine perfide, ja perverse Artikulation von Selbstwirksamkeit. Mit Hass kann man ja wahnsinnig viel bewirken und sich wieder wichtig fühlen.

DIE FURCHE: Aber wie erwächst aus einem individuellen Gefühl wie Hass eine - gesellschaftliche - Stimmung? Und worin liegt überhaupt der Unterschied?

Bude: Stimmungen unterscheiden sich von Gefühlen zunächst dadurch, dass sie nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet sind, über das man eine abschließbare Geschichte erzählen könnte, sondern dass sie einen Zustand der Welt erfassen. Stimmungen sind etwas, das über einen kommt - auch über ganze Gesellschaften. Sie werden natürlich medial verstärkt, aber sie kommen auch in Alltagsgesprächen zum Ausdruck: Die Menschen in Europa haben derzeit etwa das Gefühl, dass sie sich in einer vergehenden Zeit befinden - und sie wissen auch nicht, ob noch eine Zeit kommt, die ihnen Chancen bietet. In den jungen Schwellenländern ist die Situation völlig anders: Hier haben die Menschen das Gefühl, dass ihre Zeit erst im Kommen begriffen ist. Das ist auch einer der Kerne der Flüchtlings- und Zuwanderungssituation: Dass Europa mit Menschen konfrontiert ist, die in kollektiver Hinsicht vom Gefühl getragen sind, dass ihre Zeit erst kommt. Denn zu migrieren oder zu flüchten und anderswo sein Glück zu versuchen, ist ja ein ungeheurer Akt des Selbstbewusstseins. Ob es für diese beiden Glücksbewegungen Verbindungen gibt, die Zukunft eröffnen, wird die große Frage sein.

DIE FURCHE: Medien spielen hier eine große Rolle. Der französische Soziologe Gabriel Tarde, auf den Sie sich in Ihrem Buch mehrfach beziehen, hat um 1900 die These von der "Ansteckung" durch gleichzeitige Zeitungslektüre formuliert. Sind Medien also "Stimmungsmacher" - oder können sie nur vorhandene Stimmungen verstärken?

Bude: Die Stimmung entsteht in den kleinen Lebenskreisen. Aber Medien sind strukturell ganz wichtig für die Verstärkung einer herrschenden Stimmung. In Deutschland wurde etwa die Stimmung der Willkommenskultur medial verstärkt. Jene, die dem skeptisch gegenüberstanden, haben sich in ihren jeweiligen Lebenskontexten auf die Lippen gebissen und sich in die "Schweigespirale" begeben, wie sie Elisabeth Noelle-Neumann beschrieben hat. Doch dann kam die Silvesternacht von Köln

DIE FURCHE: die Alice Schwarzer in ihrem neuen Buch als "Schock" bezeichnet ...

Bude: Es wurde jedenfalls plötzlich deutlich, dass die Flüchtlinge oder Migranten auch noch anders sind, als man immer gedacht hat. Das war natürlich zu erwarten, hat aber bei jenen, die sich in der euphorischen Willkommenskulturstimmung befunden haben, eine Art von Selbstzweifel hervorgerufen. Das wollten sie aber nicht zum Ausdruck bringen, weil sie den anderen nicht Raum geben wollten, die sie für fremdenfeindlich halten. Es kommt hier also zu einem Austausch der Schweigespirale: Diejenigen, die zuerst den Mund gehalten haben, kommen wieder nach vorne. Und die anderen haben nicht mehr genügend Kraft, um ihre Stimmungsposition in ihren Lebenskreisen durchzusetzen.

DIE FURCHE: Vor allem nicht im Netz ...

Bude: Ja, viele haben verschreckt gemerkt, welche Gegenstimmung es in den Katakomben des Netzes gibt. Und plötzlich gelten diese Foren als zentrale Stimmungsträger und nicht mehr das Fernsehen und die Zeitungen. Hier beginnt dann die Rede von der "Lügenpresse" und der Kampf darüber, wo sich die Stimmung der Bevölkerung am klarsten zeigt. Es wäre sicher falsch zu glauben, dass das Netz ein repräsentativer Ausdruck der Stimmung ist. Doch es muss als Indikator ernst genommen werden.

DIE FURCHE: Was wäre hier die Rolle der so genannten Qualitätsmedien?

Bude: Sie sollten die Netzstimmungen nicht repräsentieren, aber aufnehmen und interpretieren. Die Zeit hat es etwa in der letzten Phase der Zuwanderungsdiskussion sehr gut geschafft, die unterschiedlichen Positionen - auch innerhalb der Redaktion - wie bei einer Familienaufstellung darzustellen.

DIE FURCHE: Die Politik muss hingegen selbst Position beziehen. Wie kann es einem künftigen Kanzler und Bundespräsidenten überhaupt gelingen, angesichts der polarisierten Stimmung einen Ausgleich zu schaffen? Bude: Ich glaube, dass man dazu eine dritte Position braucht -und die kann auch von Leuten kommen, die man bisher nicht im Blick hatte. In Deutschland ist das etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen, von dem man das Gefühl hat, dass er diese Stimmungspolarität außerordentlich gut erkennt. Denjenigen, die sich in ihrer Haltung zur Zuwanderungsfrage im Recht fühlen, sagt er: Ihr müsst euch auch ins Vernehmen setzen mit den Leuten, die das nicht so sehen, eine innergesellschaftliche Feinderklärung führt nicht weiter, weil man kann nicht einen Teil der Bevölkerung nach Madagaskar verschiffen. Solche Türöffnerfiguren sind jetzt wichtig. Sonst werden wir die Zukunftsverbautheit, unter der wir alle leiden, nur noch mehr zementieren.

DIE FURCHE: Charismatiker mit "Yes, we can"-Pose würden also nicht mehr reüssieren?

Bude: Ja, weil wir das Problem nicht durch einen Trick lösen können. Der Ball geht wieder zur Zivilgesellschaft zurück. Man muss wirklich ehrlich werden zu sich selber und sagen: Vielleicht teile ich die Selbstzweifel mit Leuten, die daraus Schlussfolgerungen ziehen, die ich eigentlich ablehne. Aber vielleicht sind auch manche Diagnosen richtig. Eine Stimmung, die einen überkommen hat, kann man jedenfalls nur drehen, wenn man sie für sich akzeptiert. Und man kann auch die Stimmung des anderen nicht bestreiten. Man kann sich nur fragen: Gibt es Übereinkünfte? Gibt es Möglichkeiten, an bestimmten Stellen den Dissens zu verbalisieren? Das ist der Prozess, den wir künftig brauchen. Denn die rechtspopulistischen Elemente werden auf mittlere Sicht nicht aus unseren Gesellschaften verschwinden.

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