Der hessische Teil des Abendlands

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Rot-Grün mit Duldung der Linkspartei: Das hessische Modell polarisiert. Uwe Vorkötter, Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau", kalmiert.

In zehn Tagen geht das Abendland unter. Jedenfalls der hessische Teil desselben. In der übernächsten Woche bricht ausgerechnet im großbürgerlichen Wiesbaden der Sozialismus aus. Anfang November 2008 ruiniert eine Sozialdemokratin namens Andrea Ypsilanti definitiv und endgültig die ohnehin schlechten Chancen ihrer Partei bei der Bundestagswahl im Herbst 2009. Nicht weil sie der SPD eine Niederlage beschert, sondern weil sie es schafft, Roland Koch als Ministerpräsidenten abzulösen. Ein Triumph, der von der eigenen Parteispitze als Debakel empfunden wird. Ein Regierungswechsel, der zur Machtübernahme stilisiert wird. Hessische Verhältnisse: Ein kaltes Schaudern läuft der Republik angeblich über den Rücken.

Gestern haben die Protagonisten von Rot und Grün nach nicht einmal drei Wochen ihre Koalitionsverhandlungen beendet und verkündet, was sie denn nun miteinander vorhaben. Und ach, die historische Zäsur ist auf politisches Normalmaß geschrumpft. Der einerseits versprochene, andererseits befürchtete fundamentale Politikwechsel hat sich im Kleingedruckten weitgehend verflüchtigt. […]

Der "Finanzierungsvorbehalt" als Leitmotiv

Mehr zu erwarten hieß von Anfang an, sich Illusionen zu machen. Die künftige rot-grüne Koalition in Hessen wird, sofern sie denn die Wahl im Landtag unfallfrei übersteht, zwei Fesseln zu spüren bekommen, die Landesregierungen typischerweise spüren: mangelnde Kompetenzen und fehlendes Geld. Und zusätzlich legt sie sich eine dritte Fessel selbst an: die Abhängigkeit von einer Linkspartei, die im Landtag mitentscheiden will, aber in der Regierung keine Mitverantwortung übernimmt.

Typischerweise leidet die Landespolitik unter mangelnden Kompetenzen. Das gilt für Ypsilanti genauso wie für Seehofer. Egal ob Hessen oder Bayern, die Regierungen der Länder können vielfach nur exekutieren, was der Bund und immer häufiger auch die Europäische Union vorgeben. Ihre Gesetzgebung besteht zu einem beachtlichen Teil in der Umsetzung von Richtlinien, Verordnungen und Rahmengesetzen. Und dort, wo sie originäre Kompetenzen haben, etwa in der Schulpolitik oder bei der Ausstattung von Polizei und Justiz, spüren die Länder die zweite Fessel, die finanzielle. Über die Steuern und damit über den Löwenanteil der Einnahmen wird in Berlin entschieden. Ypsilanti und Al-Wazir hätten gern eine Vermögenssteuer, um Soziales und Ökologisches zu finanzieren. Aber sie können sie nicht beschließen. Im Gegenteil: Statt zusätzlicher Mittel hinterlässt ihnen die CDU-Regierung ein Milliardendefizit, und das schon vor der Finanzkrise. Der Finanzierungsvorbehalt, unter den Rot-Grün alle Vorhaben gestellt hat, wird sich wohl noch als Leitmotiv des gesamten Koalitionsvertrags entpuppen.

Klein-Klein statt großer Wurf

Und dazu noch die Linke als Partner. In diesen Tagen entscheiden knapp 1000 Mitglieder der Linkspartei … über die "Tolerierung" der rot-grünen Regierung. Vor allem entscheiden sie darüber, was die künftige Regierung alles nicht darf: irgendwo irgendetwas streichen, ein Projekt auf den Prüfstand stellen, einen Besitzstand antasten … Der Spielraum, den die Linke Rot-Grün gewährt, entspricht der Bewegungsmöglichkeit, die eine Fußfessel erlaubt. Politikwechsel braucht Geld, sagt Willi van Ooyen, der Dritte im Zweier-Bündnis Ypsilanti/Al-Wazir. Und wer kein Geld hat, meint der Linke, muss es sich leihen. So einfach ist das, wenn man eine Regierung toleriert. Nur hat das mit realer Politik … nichts zu tun.

Landespolitisches Klein-Klein statt großer Wurf: So wird der Alltag der rot-grünen Minderheitsregierung … aussehen. Und das Abendland wird nicht untergehen. Nicht einmal der hessische Teil.

"Frankfurter Rundschau", 25. Oktober 2008

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