Der moderne Historiker

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Der Historiker Tom Segev hat eine vielbeachtete Biografie zu Simon Wiesenthal verfasst. Einige kritische Anmerkungen zu diesem und anderen Werken des Autors von einem Zeitzeugen.

Theodore Roosevelt sagte 1912 über die Arbeit von Historikern: #Ihre Schriften sind unnütz, sofern sie nicht gelesen werden, und sie können nicht gelesen werden, es sei denn, sie sind lesbar.# Die meisten Bücher von Tom Segev, dessen Kolumnen regelmäßig in der linksliberalen Tageszeitung Haaretz erscheinen, sind lesbar, einige wurden zu Bestsellern.

Tom Segev, 1945 als Sohn 1935 aus Deutschland geflüchteter Eltern in Jerusalem geboren, dessen Vater 1948 im Unabhängigkeitskrieg gefallen ist, machte sein Doktorat in Geschichtswissenschaften an der Bostoner Universität. Seit seinem Buch #Die siebte Million# (1995), in dem er den Umgang der Israelis mit dem Holocaust und seinen überlebenden Opfern analysiert, gilt Segev als Vertreter einer #neuen Geschichtsschreibung#.

Segev ist ein Vielschreiber: 2003 erschien sein Buch #Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates#, in dem er die dramatischen Ereignisse der Staatsgründung 1948 und die ersten Jahre des jungen Staates schildert. Im gleichen Jahr publizierte er #Elvis in Jerusalem # Die moderne israelische Gesellschaft#, die er als erfolgreich sieht. Gleichzeitig ist für ihn das Ende des Zionismus in Sicht, weil sich diese Gesellschaft #amerikanisiert# hat. Zum Bestseller wurde sein Buch #Es war einmal ein Palästina, Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels#, in dem er spannend über die Zeit des britischen Mandats bis 1948 berichtet.

Die Wiesenthal-Biografie

Beauftragt von Simon Wiesenthals Tochter hat er eine 574 Seiten umfassende Biografie publiziert. Seine wichtigste Entdeckung: Wiesenthal erhielt ein paar Jahre ein monatliches Gehalt von 300 Dollar vom Mossad. Das ließ einige österreichische Journalisten von Agententätigkeit fantasieren, obwohl Wiesenthal doch eigentlich nur der während des Kalten Krieges eher passiven österreichischen Justiz und Polizei half, die Spur von Verbrechern zu verfolgen. Damit hat er # wie Segev betont # Österreich einen großen Dienst erwiesen.

Wer so wie der Autor dieses Artikels, Simon Wiesenthal lange Jahre aus der Nähe erleben durfte, kann nicht nachvollziehen, dass Segev ihn in die Schublade #rechts# steckt. Der von Wiesenthal vor Gericht gebrachte Franz Murer (#Schlächter von Wilna#) # immerhin einer der wichtigsten Fälle Wiesenthals # war ÖVP-Funktionär in der Steiermark, was, vom sonst so detailverliebten Segev, nicht angegeben wird. Wiesenthal hatte eng mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und dessen damals sozialdemokratischen Leiter Dr. Wolfgang Neugebauer kooperiert, er hatte keinerlei Berührungsängste mit den Grünen.

Doch auch andere Ansichten Tom Segevs sind durchaus zu hinterfragen: In seinen Büchern lässt er beispielsweise kein gutes Haar an den Führern der zionistischen Bewegung, insbesondere an David Ben Gurion, der kein weichherziger oder sentimentaler Mensch war, dessen schwerwiegende Entschlüsse aber zumeist richtig waren. Entgegen allen #guten Ratschlägen# des amerikanischen State Departments rief Ben Gurion am 14. Mai 1948 gemäß dem UN-Teilungsplan den jüdischen und demokratischen Staat Israel aus, der bis Ende 1951 687.000 Juden, darunter 300.000 Flüchtlinge aus arabischen Ländern aufnahm.

Ohne das #Wiedergutmachungsabkommen# 1952/3 mit der BRD # das sowohl von Linken als auch von Rechten abgelehnt wurde # hätte die Integration nicht vollbracht werden können. Angesichts der enormen Probleme unterliefen der Regierung auch Fehler, doch Ende der 1960er Jahre hatte jeder Bürger ein richtiges Dach über den Kopf. Wenn auch die erste Generation leiden musste, wurden ihre Kinder umso erfolgreicher.

Nachdem der Holocaust damals zu einem Bestandteil der jüdischen Identität wurde und die israelische Historikerin Dina Porat 1986 ihr wegweisendes Buch über die Rettungsversuche der zionistischen Führung 1942#1945 publizierte, begannen #Neue Historiker# wie Tom Segev Ben Gurion und der zionistischen Führung wegen ihrer damaligen Haltung Vorwürfe zu machen. Auch in dieser Wiesenthal-Biografie schreibt er vom offenkundigen #Untätigbleiben# der zionistischen Führer während des Zweiten Weltkrieges. Eine Behauptung, die er schon 1995 in seinem Buch #Die siebte Million# aufgestellt hat.

Die Negation der Diaspora

Dabei beruft er sich auf die zionistische Ideologie der #Negation der Diaspora#, die jedoch während der Kriegsjahre, aufgrund der Furcht um das Leben der Verwandten und Freunde keine wirkliche Geltung hatte. Segev behauptet: #Die Führer des erstrebten Staates betrachteten es nicht als ihre Aufgabe, Europas Juden zu retten.# Dabei übersieht er freilich, dass sich David Ben Gurion, Moshe Shertok und viele andere persönlich bemühten, jede sich bietende Chance zur Rettung von Juden wahrzunehmen, obwohl die Bedingungen sehr schwierig waren.

Die Tatsachen: Die Einwanderung von Juden in das Mandatsgebiet Palästina wurde von der britischen Regierung mit dem #Weißbuch# im Mai 1939 radikal beschränkt, vorgesehen waren für die nächsten fünf Jahre jährlich 15.000 Einreisezertifikate. Als man im November 1942 wusste, was im von den Nazis besetzten Europa mit den Juden geschah, standen nur mehr 30.000 Zertifikate zur Verfügung und die Briten weigerten sich, die Zahl zu erhöhen und auch die USA hatte ihre Tore nicht weit geöffnet.

Als zwei Monate nach der Besetzung von Ungarn am 19. März 1944 Joel Brand von Eichmann nach Istanbul geschickt wurde, um gegen 10.000 Lastautos, die sie nur an der Ostfront einsetzen wollten, eine Million Juden freizugeben, erklärte Ben Gurion am 25. Mai: #Sogar wenn es nur eine Chance gegen eine Million gibt # müssen wir diese ergreifen und alles tun.#

Willkürliche Urteile

Tatsächlich wurden also enorme Summen # entgegen den Devisenvorschriften der Alliierten # in das von Deutschen besetzte Europa auf verschlungenen Wegen gebracht, um Juden zu retten. Wenn die Rettungsversuche zum großen Teil erfolglos waren, dann lag es nicht an ihren Bemühungen. Jahrzehnte danach versuchte die Supermacht USA, in Teheran ein paar Dutzende Geisel zu befreien, und scheiterte.

Die Führer des Jischuv, der Juden Palästinas, und die dortige Gesellschaft hatten # trotz der Tatsache, dass von den 600.000 dort lebende Juden 30.000 als britische Soldaten am Krieg teilnahmen # eine sekundäre Rolle gespielt. Großbritannien hat auch nach dem Holocaust nicht die Tore des Landes für die Überlebenden geöffnet. Das Mineralöl wog schwerer als der Humanismus. Das hat Wiesenthal erkannt, der #seine Stimme, die bereits damals moralisches Gewicht hatte, seine Kontakte zu den Medien und einen immer größeren Teil seiner Zeit# Israel zur Verfügung stellte.

Der Historiker Segev zögert nicht, antihistorisch, mit willkürlichen, kategorischen Urteilen heutige Begriffe und Werte in die Vergangenheit zu projizieren, und unterstellt den Führern des noch nicht entstandenen Staates Kräfte und Möglichkeiten, die der jüdische Staat heute besitzt, über die er damals jedoch nicht verfügte, und wirft ihnen vor, diese Kräfte nicht zur Rettung benützt zu haben, denn #sie erwiesen sich in dieser Angelegenheit als kleine einfallslose Leute ## Segev hat eine simple Erklärung für die Erfolge der zionistischen Bewegung unter Führung von David Ben Gurion: Sie seien nur dem Zufall geschuldet, während das Scheitern bei der Rettung von Juden das Resultat von Torheit und eines vorsätzlichen Konzepts waren. Seriöse Geschichtsschreibung schaut anders aus.

* Der Autor war Redakteur der IKG-Wien

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