Der Primar, der um Brot bettelt

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Weltweit ist die Tuberkulose als eine Folge wachsender Armut wieder im Vormarsch. Erschütternder Besuch in einem ukrainischen Tbc-Krankenhaus.

Der Primararzt des Tuberkulose-Krankenhauses in der Charkover Bazhanov Straße hat sich auf der Suche nach Brot für seine Patienten an kirchliche Organisationen gewandt. So wurde die Caritas erst auf Vitaly V. Mankovsky und sein Spital aufmerksam. Der erste Besuch in der Klinik, das Gespräch mit dem am Rande der Erschöpfung arbeitenden Primar, die Visite in den Zimmern bietet ein erschütterndes Bild der katastrophalen Zuständen und zeigt erst die Ausmaße einer durch Tuberkulose ausgelösten Tragödie die weit über den Osten der Ukraine hinausreicht, ja den Großteil der Ex-UdSSR-Staaten betrifft.

Tuberkulose, Tbc - das durch den Keim Mycobacterium tuberculosis ausgelöste Leiden verbreitet sich vor allem in armen Ländern wieder stark. 1999 gab es laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit 8,4 Millionen Tbc-Neuerkrankungen, zwischen zwei und drei Millionen Menschen sterben jährlich an der Krankheit. "Seuche der Armut", nennt Primar Mankovsky die Tuberkulose und fast sein ganzes Berufsleben als Mediziner hat er der Bekämpfung von Tbc gewidmet. Vor dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit habe es nur mehr ganz wenige Tuberkulosefälle gegeben. Es wurde schon überlegt, erzählt Mankovsky, die Klinik in der Bazhanov Straße zur Behandlung anderer Krankheiten umzuwidmen. Heute, wenig mehr als zehn Jahre später, gibt es offiziell 1,4 Prozent Tuberkulose-Kranke in der Ukraine. Bei dem 50-Millionen-Volk ergibt das die erschreckende Zahl von 700.000 Infizierten. Das sei aber nur die Spitze des Eisbergs, gibt Mankovsky zu bedenken: "Die Dunkelziffer ist in diesem Bereich enorm." Wie viele infizieren sich zu Hause, leiden zu Hause, sterben zu Hause? Ohne Geld, ohne Kraft schaffen sie den Weg nicht in das nächste Krankenhaus und bleiben damit auch aus jeder Statistik ausgespart. Offiziell kostet in der Ukraine der Krankenhausaufenthalt zwar nichts, in der Realität fallen jedoch für Bettwäsche, Essen und für die Bereitschaft der vom Staat unterbezahlten Ärzte erhebliche Kosten an.

Sei zehn Jahren, klagt Mankovsky, habe er keine neuen Betten und die dazugehörige Wäsche, geschweige denn moderne medizinische Geräte für sein Krankenhaus erhalten. Der Gang durch die Zimmer bietet ein dementsprechend trostloses Bild. Laut WHO erkranken in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion pro Jahr mehr als 50 Menschen pro 100.000 Einwohner an Tuberkulose. Eine gewaltig hohe Zahl, im schlimmsten Sinne beeindruckend, den Atem zum Stocken bringt aber erst ein Blick in Mankovskys-Krankenzimmer. Hier wird die Statistik auf das Elend einzelner Kinder heruntergebrochen. Hier liegen die Kleinen so lange wie in keinem anderen Krankenhaus. Wo soll der Primar Drei-, Vier-, Fünfjährige hin schicken, auch wenn sie geheilt sind. Es gibt hier Kinder, die sind schon mit Tuberkulose geboren worden, die kennen nichts anderes als schäbige Gitterbetten, total überfordertes Krankenhauspersonal und drei Mal Brei am Tag. Die wissen gar nicht, wie erbärmlich es in ihren Zimmern stinkt, weil sie es noch nie anders erlebt haben.

Kurze Aufregung unterbricht den monotonen Gang durch das Elend. Ein Bub hat sich auf und auf mit Schokolade angepatzt. Die Pflegerin trägt ihn in den Waschraum. Er hat aus lauter Freude über die geschenkt bekommene Mozartkugel diese so lange festgehalten, bis der Schokolade in seinen Händen zerschmolzen ist.

Die Tuberkuloseepidemie schwappt auch schon nach Russland hinüber, warnt Mankovsky. Dort bekämpfe man aber mit besserer internationaler Hilfe die Seuche effizienter, ärgert sich der Primar, dass im eigenen Land die Hilfsangebote - vor allem aus Amerika - auf Grund der überbordenden Bürokratie nicht genutzt wurden. Nachträgliche Recherchen ergeben aber ein etwas anderes Bild: Auch in Russland warnten noch vor zwei Monaten Wissenschafter und Gesundheitsbehörden vor einer Tuberkulose-Epidemie enormen Ausmaßes. Vermutlich seien laut Bericht der angesehenen englischen Fachzeitschrift für Medizin The Lancet, rund 16 Millionen Russen - das wäre jeder zehnte - bereits mit Tuberkulose angesteckt.

Beosnders HIV-Infizierte sind von Tbc noch mehr als sonst schon bedroht. Besteht doch für sie eine 30 Mal höhere Gefahr, sich mit Tuberkulose anzustecken, als für gesunde Menschen. Die verbreiteste Form der Krankheit ist die Lungentuberkulose, bei der die Lunge zersetzt wird. Mankovsky berichtet aber auch von allen nur erdenklichen anderen Formen, bis hin zu einer Art von Tbc, die das zentrale Nervensystem angreift.

Von der im letzten Herbst von Weltbank und WHO angekündigten Großoffensive gegen die Krankheit haben die Kranken in der Bazhanov Straße noch nichts mitbekommen. Die unglaubliche Summe von 10,37 Milliarden Euro wurde dabei für eine effiziente Bekämpfung von Tuberkulose veranschlagt. Vitaly Mankovsky hat für jeden seiner Patienten gerade einmal 80 Kopeken (20 Cent) pro Tag zur Verfügung. Zwölf Griwni (drei Euro) pro Tag bräuchte er jedoch um einen Tuberkulosekranken mit Essen und Medikamenten ausreichend zu versorgen.

Katastrophal sind die Auswirkungen, wenn Mankovsky während der Behandlung eines Patienten das Geld für Medikamente ausgeht. Wird bei Tbc-Kranken nämlich die Behandlung abgebrochen beziehungsweise ausgesetzt, entwickeln diese eine arzneimittelresistente Tuberkulose, eine Form der Krankheit also, die auf die üblichen Anti-Tbc-Medikamente nicht mehr anspricht. Diese Fälle sind schon in westlichen Industriestaaten nur sehr schwer zu behandeln. In armen Ländern gleicht eine solche Diagnose aber einem Todesurteil. "Durch den Geldmangel produzieren wir Resistente", gibt Mankovsky offen zu. Laut Lexikon steckt ein Mensch mit aktiver beziehungsweise offener Tuberkulose wiederum etwa zehn Gesunde an. "Eine ökonomische und schlussendlich politische Bombe für das Land", befürchtet Mankovsky.

Bislang harren und darben die ersten Opfer dieser Bombe noch von ihrer Umwelt weitgehend allein gelassen und ignoriert in dem grauen Backsteinbau in der Bazhanov Straße. Primar Mankovsky bleibt zum Abschied an der Tür stehen und winkt den Besuchern noch lange nach. Bald wird er wieder kommen müssen und um Brot für seine Patienten bitten.

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