Der Protestzug der Lemminge

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In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwunges hat so eine stolze Gewerkschaftsbewegung durchaus etwas Erhebendes. Denn wenn die Wirtschaft brummt und es allen besser geht als je zuvor, den Unternehmern und der Industrie zumal, die auf prallen Geldsäcken hocken # dann lockt der Ruf der Straße, die Arbeit bleibt liegen, die Masse marschiert, die Fahnen wehen, die Internationale dröhnt und die Arbeiter, das Volk bekommt am Ende auch etwas vom fetten, lohntriefenden Kuchen des gemeinsam erwirtschafteten Reichtums ab. So war das bis herauf in unsere Tage.

In Frankreich sahen die Genossen Streiks noch in den 60er-Jahren als #revolutionäre Gymnastik#. Aber seither hat sich ganz ohne Revolution dramatisch viel verändert # und es hätte zum Besseren sein können, hätten die Gewerkschaften nicht all die Umwälzungen der Arbeitswelt konsequent verschlafen: Das zunehmend prekäre Dasein der Berufseinsteiger mit ihren McJobs und Mindestlöhnen, die ein Auskommen nicht im Mindesten ermöglichen; die Auflösung der Arbeiter- und Angestelltenmilieus und die begleitenden Ängste vor der Zukunft und dem Fremden; die Auflösung des Sozialstaates bei gleichzeitiger Konservierung seiner Verwalter, der Beamten; die Schwierigkeiten der Globalisierung und die Grenzen der teueren Produktion in Industriestaaten.

Wo blieben die Antworten

Auf all das hatten und haben die Gewerkschaften Europas keine Antwort. Sie beschäftigen seit Jahren ihre Funktionäre damit, bei Kongressen Konzepte für die Zukunft zu erarbeiten, die sie hernach in Schubladen endlagern.

Was das in einer wirtschaftlich angespannten Situation bedeutet, sehen wir in Frankreich und wir sahen es vor Kurzem in Griechenland. Gewerkschaften sind zwar trotz eines Organisationsgrades von um die acht Prozent noch in der Lage, Arbeitskämpfe zu organisieren, doch die reale Ausformung der Proteste gestalten längst andere, hungrigere Gruppen der Gesellschaft: unterprivilegierte Jugendliche, frustrierte Schüler, wütende Tanklastwagenfahrer. Es brennen Schulen, der Verkehr funktioniert nur noch im Ausnahmefall, die Wirtschaft verliert Milliarden. Aber worum ging es noch gleich? Um eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 60 auf 62 Jahre. Dieser Protest verleugnet die demografische Realität. Gehen die Leute früher in Pension, muss der arbeitende Rest dafür aufkommen.

Soziale Selbstbeschädigung

Bei einer Lebenserwartung von heute 79,4 Jahren in der EU # Tendenz steigend # ist das Bestehen auf einem derart niedrigen Pensionsantrittsalter nichts als eine soziale Selbstbeschädigung. Aber nicht nur in Frankreich gleichen Demonstrationen heute einem Zug von Lemmingen Richtung Budgetklippe.

In Österreich geht es den Gewerkschaften um eine Hacklerregelung # oder sollten wir besser Hofratsregelung sagen, da es doch fidele gut bezahlte Beamte sind, die damit bestens finanziert und arg verfrüht ins Altenteil rutschen. Wer auf solchen Regelungen beharrt, ob als Minister oder als Kanzler, hat von den Budgetproblemen dieses Landes nichts verstanden. Ebenso wenig wie die Gewerkschaften in Frankreich verstanden haben, was es heißt in der Krise Milliarden vom Staat für die Autoindustrie zu fordern # und zu bekommen: Ein Budgetloch eben, das nun gestopft werden muss.

Es geht aber nicht nur um die Gewerkschaften. All die geblähten Interessenvertretungen, Kammern, Industrieverbände, die seit Jahr und Tag den Staat als Schatztruhe begreifen, in die man nur kräftig hineinlangen muss, um sich die Bäuche vollzuschlagen, sollten begreifen, dass sie Teil eines Ganzen sind. Dieses Ganze heißt nicht ÖGB, IV, WKÖ oder Pensionistenverband, sondern Staat. Wer in einer derartigen wirtschaftlichen Situation nur ans eigene Hemd denkt, wird bald in Fetzen stehen # gestern in Athen, heute in Paris, morgen vielleicht in Wien.

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