Der Ruf der Kassandra

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Statt sich über die negativen Analysen der Rating-Agenturen zu Griechenland zu ereifern, stünde es den Häuptern der EU wohl an, endlich eine Gesamtstrategie für die Schuldenstaaten zu entwerfen, die über die Rettungsschirme hinausgeht.

Ehrliche Propheten sind selten beliebt. Sie künden von Verderben, wo das Volk Zuversicht und Erfolg erhofft. Sie unken von Tod und Verfall statt von Lebensglück und Wachstum. In einer solchen Rolle befindet sich derzeit jene Rating-Agentur, die die armseligen Aussichten der Ökonomie schon im Namen trägt: "Standard & Poor’s“. Da bemüht sich die gesamte Elite Europas verzweifelt, den griechischen Kahn vor der Havarie im Schuldenmeer zu bewahren und weitere 120 Milliarden für Athen flüssig zu machen. Und als endlich auch Banken und Private sich bereit erklären, mitzuzahlen, kommt Standard & Poor’s und sagt: Tut das und wir werden Griechenland für bedingt zahlungsunfähig erklären.

Das Zeter und Mordio der europäischen Politik über die Mitschuld der Ratingagenturen an der Schuldenkrise und die Forderung nach eigenen Agenturen, dessen Zeugen wir diese Woche wurden, endete praktischerweise vor der Frage, ob eine europäische Agentur anders geurteilt hätte als eine amerikanische.

Die richtige Analyse

Wer sich die Mühe macht, die Erläuterungen von Standard & Poor’s zu lesen, die das negative Griechenland-Szenario begründen, wird erstens feststellen, dass die Schlussfolgerungen vollkommen richtig sind. Zweitens aber, dass sich die europäische Politik seit Monaten in - man kann es nicht anders sagen - tumbem Selbstbetrug übt. Standard & Poor’s stellt die richtigen Fragen: Zeigt die griechische Wirtschaft Zeichen, dass es ihr in absehbarer Zeit besser gehen könnte? Klare Antwort: Nein, im Gegenteil. Die Rettungspakete verhindern zwar für den Moment den Zusammenbruch. Doch auch mehr als 200 Milliarden können nichts daran ändern, dass Griechenland jede Aussicht auf Wachstum mangels Ressourcen der Wertschöpfung fehlt. Zu allem Überdruss treiben die Sparpakete Eins und Zwei tausende Klein- und Mittelbetriebe in die Pleite. Die EU-Konjunkturhilfe von einer Milliarde Euro wirkt Angesichts der Schwierigkeiten der Realwirtschaft wie ein schlechter Scherz. Der Verkauf von Staatsbetrieben zur Sanierung der Staatsfinanzen ist zu kurzfristig, zu umfangreich, zu erwartungsfroh, was die Erlöse betrifft. Die Aussichten für das Steueraufkommen: Negativ. Währungsflexibilität? Nicht gegeben. Zu guter Letzt muss auch die Frage nach dem politischen Risiko gestellt werden. Nach der Wackelentscheidung der letzten Woche und dem hinhaltenden Widerstand der konservativen Opposition und der Gewerkschaften gegen die Sparpakete steht fest: Das Risiko des politischen und gesellschaftlichen Scheiterns wächst mit jedem Tag.

Was wäre zu tun? Die griechische Gesellschaft muss sich damit abfinden, dass es massive Einsparungen geben muss. Aber diese Einschnitte können nicht von einer politischen Klasse ausgeführt werden, die sich mit Korruption und Vetternwirtschaft über und über beschmutzt hat.

Reform an Haupt und Gliedern

Anders gesagt: Ohne einen vollständigen Rückzug der Familien Papandreou, Simitis, Karamanlis - und aller angehängten Sipp- und Seilschaften aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft - gibt es keine Möglichkeit, das verfilzte System zu ändern, den Staatsapparat einer überlebensnotwendigen Diät zu unterziehen und bei Bürgern und Investoren jenes Vertrauen zu schaffen, das für die Bewältigung der Krise notwendig ist.

Ebenso wichtig wäre ein durchdachter Plan Europas zur Rettung der griechischen Realwirtschaft. Das wird vielleicht noch mehr kosten als die Rettungspakete. Aber das Geld würde wenigstens nicht auf den Anleihemärkten verbrennen. Werden diese Kernpunkte nicht berücksichtigt, wird keine Rating-Agentur etwas anderes folgern können als dieses: All jene, die sich an der Hilfe beteiligen, tragen das hohe Risiko, am Ende ihr Geld zu verlieren. Was Europa und Griechenland brauchen, ist eine Strategie. Dass dieser Plan nach einem Jahr immer noch nicht gefunden ist, ist weitaus beschämender für die Politik, die ihn entwerfen sollte, als für Rating-Agenturen, die sein Fehlen bemängeln.

* oliver.tanzer@furche.at

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