Die deutschen Sozialdemokraten können ihr Glück noch gar nicht wirklich begreifen. Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz begeistert die Massen. Ist binnen kürzester Zeit zum Angstgegner von Angela Merkels CDU/CSU geworden. Der ebenso faszinierende wie rätselhafte "Schulz-Faktor" holt laut Umfragen Nichtwähler zurück. Vor allem aber kommt er bei der Arbeiterschicht und den sogenannten "kleinen Leuten" an. Also bei dem ehemals klassischen SPD-Klientel, von dem sich längst ein großer Teil besser bei den Rechtspopulisten aufgehoben fühlte. Ein Phänomen, unter dem fast alle westlichen Demokratien leiden. Und das die moderaten linken Parteien mitverursacht haben, in dem sie sich auf die "neue Mitte" konzentrierten, auf Antidiskriminierungs-und multikulturelle Vielfalts-Politik.
Die Arbeiter fühlten sich mit ihren Problemen und Ängsten vernachlässigt. Wandten sich von Parteien ab, die in ihren Augen nur noch links-intellektuellen Kulturkampf betrieben, statt sich auf die soziale Frage zu konzentrieren. Martin Schulz hat dies verstanden. Der Mann aus Würselen, ohne Abitur, schafft es, die Verbindung zwischen verlorenen Wählern und seiner Partei wiederherzustellen. Gefühlt hundertmal benutzt er in seinen Reden das Wort "fühlen". Er fühlt die Sorgen seiner Wähler. Er fühlt mit jenen, die fühlen, dass Deutschland kein gerechtes Land ist. Dass er sein Fühlen vor das Füllen mit Inhalten und Fakten stellt, liegt voll im Trend der Zeit. Und ist auch eine Form von Populismus. Aber betrieben von einem überzeugten Demokraten und Europäer. Ob der Schulz-Faktor gegen den Merkel-Bonus eine Chance hat, ist längst nicht ausgemacht. Aber er gibt die Hoffnung in ein funktionierendes demokratisches System zurück. Was gar nicht hoch genug geschätzt werden kann -in Zeiten, in denen Demokratien weltweit systematisch ausgehöhlt werden.
Die Autorin ist Korrespondentin der ARD im Nahen Osten
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