Kurz - © Foto: picturedesk.com  / Hans Klaus Techt / APA-Archiv

Der Sündenfall der ÖVP

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Ein langjähriges ÖVP-Mitglied übt scharfe Kritik an der Entwicklung, welche die Partei unter Sebastian Kurz genommen hat.

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Ein langjähriges ÖVP-Mitglied übt scharfe Kritik an der Entwicklung, welche die Partei unter Sebastian Kurz genommen hat.

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Ich verstehe, dass viele in der ÖVP jetzt sehr glücklich sind: Nach langen Jahren ist es bei der letzten Nationalratswahl wieder einmal gelungen, "die Nummer Eins" zu werden. Aber ist das Ergebnis der Wahl tatsächlich ein Grund zum Feiern, zur Freude - für die ÖVP, für Österreich, für Europa, für die Welt?

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Ich war schon Mitglied dieser Partei, als Sebastian Kurz das Licht dieser Welt erblickte. Kein Obmann vor ihm lag in seinen Aussagen so weit weg von humanistischen, "europäischen", christlichen Werten, von den Gründungswerten der ÖVP, wie heute Sebastian Kurz. Er und seine Mitdenker haben in Österreich die Balance gekippt: War es vorerst eine Bewegung am rechten Rand, die gegen manche Gruppen sozial Schwacher und gegen Flüchtlinge polemisierte, rechtfertigt nun eine Kraft der politischen Mitte, die sich bisher humanistischen Werten verpflichtet fühlte, den Egoismus als Lösungsansatz für die Herausforderungen Österreichs.

War es vorerst eine Bewegung am rechten Rand, die gegen sozial Schwache und gegen Flüchtlinge polemisierte, rechtfertigt nun eine Kraft der politischen Mitte den Egoismus als Lösungsansatz.

Das gegenseitige Ausspielen sozial schwacher Gruppen, das Reduzieren von Sozialhilfe, die Positionierung neben Viktor Orbán und nicht neben Angela Merkel werden von manchen Verantwortlichen als "christlich" etikettiert, wenn es opportun ist. Bei anderen Gelegenheiten meinen Insider, die ÖVP kann und will gar nicht alle christlichen Positionen teilen - obwohl es im gültigen Grundsatzprogramm dieser Partei ausdrücklich heißt: "Grundlage unserer Politik ist das christlich-humanistische Menschenbild."

"Sozialschmarotzer" und "Notstand"

Beschämend ist, wie sich einige ÖVP-regierte Bundesländer überbieten, die Unterstützungen für die Bedürftigsten zu reduzieren: Die Einsparungseffekte sind im Vergleich zu anderen Ausgabenposten minimal. Die Konsequenzen für die Betroffenen und deren Unterstützer sind teilweise katastrophal.

"Wir können uns keine Sozialschmarotzer leisten", wird da immer wieder gesagt. Ich traue mich zu behaupten, dass im Laufe seines Lebens jeder "durchschnittliche" Österreicher mindestens soviel "sozialschmarotzt" wie Sozialhilfeempfänger oder Menschen in ähnlicher Lage. Die Angabe unrichtiger Werte beim Verkauf von Grundstücken und Realitäten, das Bezahlen von Dienstleistungen von Freiberuflern und Handwerkern ohne steuerrelevante Rechnung usw. gelten als Kavaliersdelikt, unkorrekte Angaben seitens der Ärmsten dagegen als Kapitalverbrechen.

Ein Hinweis an die "Wirtschaftspartei" ÖVP: Erhöhungen der Kaufkraft der Ärmsten fließen zum größten Teil direkt in den Konsum und stärken die Realwirtschaft viel mehr als Umschichtungen zu anderen Bevölkerungsgruppen. Die Verantwortlichen der "Neuen ÖVP" haben nur das quantitative Wachstum, das Maximieren von Stimmen als Ziel - und nicht ein qualitatives Wachstum: das hieße, bessere Antworten auf die Nöte der Menschen, besonders der Schwächeren, zu finden. Wie es immer wieder Verantwortliche der ÖVP seit ihrer Gründung versucht haben.

Wie schaute es zur Zeit der Gründung der ÖVP in unserem Land aus? Österreich lag in Trümmern, massive Hilfe vom Ausland unterstützte uns, beträchtliche Mittel z. B. des US-amerikanischen Marshallplans flossen nach Österreich und liegen etwa 70 Jahre später noch immer auf österreichischen Konten und unterstützen unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaftsbetriebe. Wo und wie intensiv hat sich Außenminister Kurz für die Schaffung eines "Marshallplans" für Afrika eingesetzt? Die Intensivierung der "Hilfe vor Ort" taucht häufig in der politischen Rhetorik auf, sie findet nur zu wenig, zu spät oder überhaupt nicht statt: Eben musste die UNO die Essensrationen für Flüchtlinge in Afrika kürzen.

Noch ein Blick zurück zur Geburtsstunde der ÖVP im Jahr 1945: 1,2 Millionen Menschen, die ursprünglich nicht Österreicher waren, plus mehr als 200.000 Sudetendeutsche und Südmährer lebten in unserem Land mit damals sechs Millionen Menschen, die aus Österreich stammten. Österreich war beileibe damals nicht eines der reichsten Länder der Welt ... Angesichts dieser Fakten bedarf der Begriff "Notstand" für die Situation mit den Flüchtlingen im Jahr 2015 einer eindrücklichen Relativierung. Die Reduzierung der Sozialdebatte auf die Herausforderungen durch Flüchtlinge halte ich für sehr demagogisch.

Viele Österreicherinnen und Österreicher engagierten und engagieren sich vorbildlich für die sozial Schwächsten: für solche, die hier geboren sind, oder für Zuwanderer. Auch beherzte Verantwortliche in Gebietskörperschaften leisten mehr als ihre Pflicht. Viele andere aber schauen weg, blockieren, verzögern, unterstützen Helferinnen und Helfer nur unzureichend. Die Ausrede auf das öffentliche Meinungsklima greift mir zu kurz: Politisch und administrativ Verantwortliche sollten für Werte eintreten und nicht nur Mehrheiten sichern!

Das kategorische Blockieren der Verschiebung der Steuerlast weg vom Faktor Arbeit (da sind wir Europameister) hin zur Besteuerung von Vermögen (dort sind wir Klassenschlechteste) und Wertschöpfung durch die ÖVP ist grob fahrlässig. Das Argument bei der Wertschöpfungsabgabe, das müsse im Gleichklang aller Staaten geschehen, dürfte nicht als Ausrede für Stillstand verwendet werden. Initiativen von Einzelstaaten, die sich geschickt Verbündete suchen, können zum Erfolg führen.

Worauf haben wir uns vorzubereiten? Die Vision, dass in unserem Land in den nächsten Jahren und Jahrzehnten drei Parteien den Ton angeben, die im Sinne und Geist von Jörg Haider reden und handeln, macht mir Angst: Es könnte so weit kommen, wenn die Sozialdemokratie hofft, das Kurz-Virus in ihrem Sinne mutieren zu können: Hauptsache, wir (zumindest die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher) leben auf einer Insel der Seligen. Mit Zäunen und neuen Eisernen Vorhängen werden wir schon unser privilegiertes Leben vor den neunzig Prozent jener schützen, die das Pech haben, "draußen" zu sein.

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