Der Teufel steckt im Detail

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"Der vorliegende Entwurf zum Sozialhilfegesetz trägt wenig zur Bekämpfung von Armut bei, aber umso mehr zu ihrer Verfestigung". Ulrike Knecht von der mobilen Wohnbegleitung der Heilsarmee kennt den Alltag von Wohnungslosen und Menschen, die drohen auf der Straße zu landen. Sie weiß, die Deckelung der Leistung innerhalb einer Wohngemeinschaft ist existenzgefährdend. Im Bereich Menschen mit Behinderung und auch der Wohnungslosenhilfe werden Plätze in Wohngemeinschaften angeboten, um Selbstständigkeit zu ermöglichen und förderliche sozialtherapeutische Angebote zu schaffen. "So können wir keine therapeutischen Wohnungen mehr führen", analysiert Knecht: "Von den übrig bleibenden 302 Euro im Monat kann niemand leben und dann noch dazu Alimente zahlen, Schulden begleichen und sich ein neues Leben aufbauen."

Wegschauen hilft nicht. Über hundert kenntnisreiche und genaue Begutachtungen der vorgelegten Sozialhilfe sind auf der Parlamentswebsite eingegangen. 137 Stellungnahmen von insgesamt 140 beinhalten teils vernichtende, jedenfalls aber ausführlich argumentierte dichte Kritik. "Wir wissen, was Maßnahmen anrichten können. Im Alltag. Konkret. Real", heißt es da von SOS Kinderdorf, dem Katholischen Familienverband, dem Rotem Kreuz, dem Behindertenrat, den Frauenhäusern, der Plattform für Alleinerziehende, aktion leben, der Richtervereinigung oder von pro mente. Wenn man die Tageszeitungen durchblättert und die TV-Nachrichten sieht, vermisst man diese tiefergehende Analyse. Wir wollen genau hinschauen. Denn der Teufel steckt im Detail.

Armutsfalle statt Sprungbrett

Zum Beispiel sitzt er im Deckel der möglichen zusätzlichen Leistungen für das Wohnen. Miriam ist Alleinerzieherin von drei Kindern in Salzburg. Als teilzeitbeschäftigte Handelsangestellte verdient sie 850 Euro netto im Monat. Sie erhält 450 Euro an Unterhaltsleistungen für ihre Kinder. Bisher hat Miriam eine monatliche Aufstockung durch die Mindestsicherung inklusive Wohnbedarfshilfe erhalten. Mit der Neuregelung verkürzt sich diese Unterstützung trotz Alleinerzieherinnenbonus. Miriam verliert im Monat 300 Euro. Selbst bei Ausschöpfung der vorgesehenen maximalen Überschreitung um 30 Prozent des Wohnkostenbeitrags deckt das nicht die realen Wohnkosten in Teilen Österreichs, besonders in den Städten, ab. Viele tausende Notfälle sind da zu erwarten, wie die Wohnungslosenstellen in Vorarlberg und Tirol vorrechnen. Hier sieht man auch, dass das alle trifft, auch die Bezieher, die einen Job haben wie Miriam.

Zusätzlich versteckt sich ein Teufel in einem generellen Deckel, der für alle Erwachsenen im Haushalt gilt und Menschen mit Behinderungen oder pflegende Angehörige treffen kann. Ist das Kind älter als 18 Jahre, wird es zu massiven Kürzungen und großen Problemen kommen.

Weiters diabolisch: Die Bestimmung fällt weg, dass Entscheidungen am Amt maximal drei Monate dauern dürfen. Wer früh hilft, hilft doppelt. Das wäre der vernünftige Zugang. Ohne Regel aber wird Soforthilfe unmöglich und Ämterwillkür Tür und Tor geöffnet. Auch die Verpflichtung, schriftliche Bescheide auszustellen, ist gestrichen. Ein schriftlicher Bescheid sollte eigentlich selbstverständlich sein, besonders wenn es um so eine sensible Grundrechtsmaterie geht.

Dieses Beispiel ist symptomatisch für den Geist, den das neue Sozialhilfegesetz atmet. Die neue Mindestsicherung ist eigentlich die alte Sozialhilfe. Mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf ist die Sozialhilfe aus dem vorigen Jahrhundert zurück -aber schlimmer und in Zukunft nach Bundesland zerstückelter, als sie es je war. Wir haben es hier mit einem Entwurf zu tun, der auf österreichweiter Ebene für uns alle kein Existenzminimum mehr festlegt. Das wird zur Folge haben, dass es eine so uneinheitliche und zerstückelte Sozialhilfe geben wird wie noch nie, also das genaue Gegenteil von "bundeseinheitlich". Es gibt keine Mindeststandards mehr, sondern nach unten ungesicherte Kann-Leistungen. Diese "Sozialhilfe" kennt auch in ihren Zielen keine "soziale und kulturelle Teilhabe" mehr. Das ist aus dem Text entfernt worden. Die Leistungshöhen, das Wohnen, Hilfen für alleinerziehende Eltern und Menschen mit Beeinträchtigungen -all das sind "Kann"-Bestimmungen. In einer Fürsorgeleistung bedeutet das alles oder nichts. In der Zusammenschau mit der angekündigten Beschneidung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung samt Notstandshilfe bedeutet das, dass stärker sozialstaatliche, statussichernde Leistungen in mehr "almosenhafte", bevormundende Fürsorge überführt werden. Eine Fürsorgeleistung mit weniger Rechten und großen Vollzugsspielräumen ist auch immer stärker mit Stigmatisierung und Abwertung verbunden. Soziale Rechte haben viel mit Würde zu tun.

Ziele und Werte eines modernen sozialen Netzes sollten sein: Grundrechte statt Almosen, Chancen statt Abstieg, sozialer Ausgleich statt Spaltung, Achtung statt Beschämung. Diese Ziele verfehlt das vorgelegte "Sozialhilfegesetz".

Die Systematik -Almosencharakter verstärken, soziale Grundrechte schwächen - kennen wir aus Großbritannien oder aus Deutschland. Die Umwandlung einer Versicherungsleistung in eine Fürsorgeleistung mit weniger Rechten - das ist Hartz IV. Die Elemente sind ähnlich: keine nach versicherungsrechtlichen Kriterien berechneten Ansprüche, sondern Bedürftigkeitsprüfung. Rascher Zugriff auf Erspartes. Kein Erwerb von Pensionsansprüchen für die Dauer des Bezugs, was bei der Beschneidung der Notstandshilfe und den erzwungenen Wechsel in die Sozialhilfe der Fall wäre. Streichung kollektivvertraglich abgesicherter Arbeitsmarktprojekte für ältere Arbeitnehmer, stattdessen 1-Euro-Jobs mit Zwangscharakter. Alle diese Vorschläge zusammen führen dazu, dass soziale Unsicherheit bis weit in die unteren Mittelschichten hochgetrieben wird. Die fatale Nebenwirkung von Hartz IV war ein riesiger Niedriglohnmarkt, der prekäre und ausgrenzende Arbeitsbedingungen für Hunderttausende gebracht hat. So wie jetzt hier hat die Debatte auch dort angefangen. Geendet hat sie nicht im Sprungbrett, sondern in einer Armutsfalle: Nur zwölf Prozent steigen bei Hartz in bessere Arbeitsverhältnisse auf. Man fällt schnell hinein und kommt umso schwerer wieder heraus. Working Poor ist das große verschwiegene Thema hinter der Debatte um die Mindestsicherung.

Der Teufel steckt im Detail. Auch die Krankenversicherung ist nicht im Gesetz verankert. Das war sie in der alten 15a-Vereinbarung auch nicht, aber jetzt haben wir es mit einem "Grundsatzgesetz" zu tun. Ein solches muss diese existenzielle Frage beantworten, wenn es seinen Namen ernst nimmt. In bestimmten Fällen kann die direkte Überweisung der Miete sinnvoll sein, etwa bei einer Suchterkrankung oder einer psychischen Krise -aber als zu begründende Ausnahme, wie es in der aktuellen Mindestsicherung auch geregelt ist. Pauschal angeordnete Sachleistungen hingegen bedeuten weniger Selbständigkeit und können zu Stigmatisierung führen. Sollte all das umgesetzt werden, weiß ab jetzt der Vermieter oder der Stromlieferant genau Bescheid, dass da einer Sozialhilfe hat. Aus der Praxis wissen wir, dass das eher zu Ungunsten der Betroffenen ausgeht. "Sozialhilfeempfänger dürfen nicht entmündigt werden und sollen daher ihre Leistung selbstverantwortlich für die Deckung ihres Lebensbedarfs und der Wohnkosten verwenden", formuliert Ulrike Knecht die aus ihrer Erfahrung wichtigen Bedingungen erfolgreicher sozialer Integration.

Zehn Jahre weniger Lebenserwartung

Ein letztes folgenschweres Detail ist die Regelung, dass Personen nur bei vor dem 18. Geburtstag begonnenen Ausbildungen unterstützt werden dürfen. Das verhindert eine nachhaltige Unterstützung und Hilfe zur Selbsthilfe. Tirol beispielsweise macht das jetzt gescheiter. Es ermöglicht Ausbildungen bis zur Höhe des Pflichtschulabschlusses bzw. einer Lehre darüber hinaus.

Menschen, die manifest arm sind -das sind im wesentlichen Mindestsicherungsbezieher -sterben um mehr als zehn Jahre früher als der Rest der Bevölkerung. Diese enorme Einschränkung der Lebenserwartung betrifft in Österreich fast 270.000 Menschen (3,2 Prozent), das entspricht in etwa der Bevölkerung von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs. Die Statistik Austria gibt ein realistisches Bild über die Lebensbedingungen von Familien und Kindern in Mindestsicherung. Viele können ihre Wohnung im Winter nicht heizen, müssen unter desolaten Wohnbedingungen leben (doppelt so oft von feuchter Wohnung betroffen, fünfmal öfter Überbelag, dreimal öfter dunkle Räume). Massiv sind die Auswirkungen auf Gesundheit, Chancen und Teilhabe der Kinder. Die Gefahr des sozialen Ausschlusses bei Kindern zeigt sich in den geringeren Möglichkeiten, Freunde einzuladen (zehn mal weniger als andere Kinder), Feste zu feiern und an kostenpflichtigen Schulaktivitäten teilzunehmen (20 mal weniger). Es finden sich keine Maßnahmen in der vorgelegten Sozialhilfe, die diese Situation verbessern würden, eher im Gegenteil.

Wegschauen hilft nicht. Mütter wie Miriam und Wohnbegleiterinnen wie Ulrike werden die nächsten Wochen genau hinsehen. Denn der Teufel steckt im Detail. Und bekanntermaßen schläft er nicht.

Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie Österreich, Mitinitiator der Armutskonferenz und Lehrbeauftragter an der FH Campus Wien.

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