Neham

Der unerträgliche Gestus der Kritik

19451960198020002020

Schlaumeier twittern aus ihren warmen Homeoffice-Stuben und kritisieren in der Causa Ukraine-Krieg alles und jeden am laufenden Band. Über Narrative, die außerhalb dieser Wüterei ihre Berechtigung behalten sollten.

19451960198020002020

Schlaumeier twittern aus ihren warmen Homeoffice-Stuben und kritisieren in der Causa Ukraine-Krieg alles und jeden am laufenden Band. Über Narrative, die außerhalb dieser Wüterei ihre Berechtigung behalten sollten.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Diskussion darüber, wer warum nach Moskau reisen darf oder nicht in die Ukraine, wie im Falle des deutschen Bundespräsidenten, scheint dieser Tage sogar die Gräuel des Krieges zu überschatten.

Während die Stadt Mariupol gänzlich zerstört und landesweit hunderte Massengräber entdeckt wurden, Ärzte Inkubatoren für Neugeborene erflehen, die Chemiewaffenkontrollbehörde OPCW auf den Plan gerufen wurde sowie Fluchtkorridore versperrt sind, macht die Empörungsgesellschaft ihrem Ruf alle Ehre: Die öffentliche Meinungskundgabe – allen voran wenn sie über Twitter oder vergleichbare Social-Media-Kanäle geschieht – wirkt größtenteils weder besonnen noch profund und schon gar nicht wohlwollend. Vielmehr erweckt es den Eindruck, als würden hier Schlaumeier in ihren warmen Homeoffice-Stuben sitzen und in Echtzeit unüberlegt alles kritisieren, was ihrer Ansicht nach in diesem Vernichtungskrieg falsch läuft.

Debatten wie diese gab es in der Corona-Pandemie, beim Kanzlerwechselspiel oder in der Ibiza-Causa zur Genüge. Aber mit Blick auf die Ukraine ist dieser Gestus der Kritik noch unerträglicher geworden. Bevor irgendjemand wissen konnte, was Nehammer bei Putin erreichen wird, meinten viele zu wissen, der Kanzler verfolge in jedem Fall unlautere Ziele. Der Vorwurf, er sei naiv, war noch der gelindeste. Ihm wurde Dummheit unterstellt, Selbstüberschätzung, Fahrlässigkeit, illoyales Verhalten gegenüber den Verbündeten, ein Ablenkungsmanöver ob der Cobra-Trink-Causa und nicht zuletzt die Verhöhnung des ukrainischen Volkes.

Mag sein, dass gewisse Antizipationen dazu geführt haben, dass Nehammer in Moskau penibel darauf geachtet hat, seine Kritiker(innen) Lügen zu strafen. Bilder, die Putins Propagandamaschinerie hätten befeuern können, wusste er zu vermeiden. Und ja, dieser Besuch wird in den Geschichtsbüchern maximal als Fußnote abgehandelt werden. Wenn überhaupt.

Allerdings sollten in Österreich auch Narrative außerhalb der Twitter-Wüterei ihre Berechtigung finden. Die Erzählung, dass der Kanzler nichts unversucht lassen wollte, dass er sich von Putins Unbarmherzigkeit mit eigenen Augen überzeugen musste, dass er festhält an der Vorstellung von „Brückenbau“, „Dialog“, „Vernunft“, kann man einfach mal stehenlassen. Ein blindes Hereinfallen auf die ÖVP-PR ist das noch lange nicht.

Vielleicht ist Nehammer – ein Newcomer und damit Underdog in der Weltpolitik – schlichtweg noch nicht so abgebrüht wie seine Mitstreiter. Sein Vorstoß kann genauso gut auf eine zutiefst menschliche Reaktion zurückgeführt werden.

Ähnlich ist übrigens Selenskyjs Weigerung, Frank-Walter Steinmeier zu empfangen, zu werten. Der ukrainische Präsident befindet sich seit dem 24. Februar 2022 im Kriegsmodus. Es wäre vermessen, zu behaupten, jemand von außen könnte seine tatsächliche Verfassung annähernd nachvollziehen. Dass er Steinmeier als einen der Hauptschuldigen ausmacht, der die extrem Russland-freundliche deutsche Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte mitgestaltet hat – wer will es ihm verdenken?

Angesichts des Schicksals der Ukraine ist es Selenskyj nicht zu verübeln, dass nicht jede seiner Reaktionen zu 100 Prozent durchdacht ist. Sein Alltag ist weit weg von einer warmen Homeoffice-Stube, aus der so mancher Schlaumeier bereits fleißig twittert, wie kritikwürdig sein Verhalten ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung