Die abgeschobene Realität

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Europa steht vor einer großen Flüchtlingswelle aus den Revolutionsgebieten Arabiens und Afrikas. Statt endlich wirksame Maßnahmen für den Ernstfall zu überlegen, üben sich die Regierungen in der Selbsttäuschung, man könne sich abschotten.

Das Problem mit den Weichherzigen, sagte einmal Milton Friedman, liegt darin, dass sich die Erweichung ihrer Herzen des Öfteren in ihr Hirn fortpflanze. Dieser Kalauer erfreut sich dieser Tage besonderer Beliebtheit, da sich die Realpolitik wieder einmal der Gutmenschenkritik kaum zu erwehren weiß, welche die humanen Werte global verankert und regional verwirklicht sehen wollen: Demokratie für Arabien, nieder mit Gaddafi, Asyl für alle Flüchtlinge aus der Kriegsregion. Öffnet die Herzen, die Tore und die Häfen!

Die Realpolitik aber schüttelt da nur verständnislos den Kopf und ruft in der Sprache vorgeblicher Vernunft zur Ordnung: Bald hofft man auf die "Rückkehr zur Normalität“, ein andermal beschwört man die "Besonnenheit aller Beteiligten“. Ganz so verfährt man auch mit dem Flüchtlingsproblem. Es wird weg- und abgeschoben statt erkannt und angenommen. Statt "Sonderasyl“ gibt es deshalb die "Frontex-Grenzsicherung“ und "bilaterale Rückübernahmeabkommen“. Denn: "Wir können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen“ (Deutschlands Innenminister De Maizière).

Die Schattenseite der Realität

Von diesem Geist sind ja auch Teile des neuen österreichischen Asyl- und Fremdenrechtes durchtränkt. Ihr Kerngedanke entspricht ja auch ganz dem europäischen Umfeld: Die Schattenseiten weltpolitischer Realität - das Elend der heimatlosen Schutz- und Menschenwürde suchenden Massen - haben gefälligst außerhalb unseres Hoheitsgebietes stattzufinden. Wir, unser Reichtum, unser System erklären sich für unzuständig. Schotten dicht, Fall erledigt. Und die Gutmenschen? Sollen sie doch reden, die Fantasten. Haben ja auch keine Wahlen zu gewinnen und keine rechten Rabauken von FPÖ, Front National, Vlaams Belang etc. vor der Tür.

Milton Friedman sollte aber weiter gehört werden, denn er sagt auch: "Wichtig an einer Maßnahme ist nicht ihre Absicht, sondern ihre Wirkung.“ Darauf wollen wir nun einmal die EU-Flüchtlingspolitik prüfen.

Zunächst: Lassen sich die Flüchtlinge von einem Millionen Euro teuren Militäreinsatz im Mittelmeer aufhalten? Nein, sie ändern höchstens ihre Reiseroute. Zweitens: Wenn Griechenland, wie nachgewiesen, sich nicht mehr um die Flüchtlinge in seinen staatlichen Lagern kümmert und das organisierte Verbrechen in den Auffangeinrichtungen an der Grenze zur Türkei die Lebensmittelverteilungen übernimmt - hilft das dann unserer Sicherheit oder stellen wir der Mafia so Tausende Verzweifelte zur freien Verfügung? Drittens: Wird Schwarzarbeit unter Asylwerbern verhindert, indem Asylsuchenden jahrelang die Arbeitserlaubnis verweigert wird? Zu guter Letzt aber: Reicht es aus, sich auf eine Flüchtlingswelle vorzubereiten, von welcher selbst der ungarische EU-Vorsitz sagt, sie werde "dramatisch“ werden, indem sich die Regierungen reicher europäischer Staaten auf Standpunkte wie die folgenden zurückziehen: "Derzeit kein Aufnahmebedarf“ (Deutschland) oder "keine Aufnahmeveranlassung“ (Österreich)?

Die Realitätsverweigerung

Was wir hier vor uns haben, ist in Gesetze, Verordnungen und politische Strategie gegossene Realitätsverweigerung. Die Konsequenzen daraus: Mehr Flüchtlinge, schlecht betreut und als Phänomen verleugnet und kriminalisiert, werden Milliarden an Kosten verursachen, anstatt - integriert in Arbeit und Gesellschaft - Milliarden beizutragen.

Kein noch so idealistischer Gutmensch erwartet also von europäischen Politikern selbstlose Nächstenliebe gegenüber Flüchtlingen. Aber einen Plan für den wahrscheinlich in den nächsten Wochen eintretenden Ernstfall darf man wohl verlangen. Das sind in erster Linie Übernahme- und Verteilungsquoten für alle EU-Staaten und in zweiter Linie Integrationspläne für die Arbeitsmärkte. Dies aber geschieht nicht. Es scheint - um Milton Friedmans Gedanken weiterzuführen -, als habe sich in diesem Fall die Härte der Herzen in die Köpfe fortgepflanzt. Und wem hat ein versteinerter Intellekt schon je gutgetan?

* oliver.tanzer@furche.at

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