Die Atom-Debatte und das Restrisiko

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Die Diskussion um die Zukunft der Kernenergie braucht keine Zuspitzung mehr. Wenn sie auch tatsächlich Ergebnisse bringen soll, braucht sie weniger Ideologie und mehr haltbare Daten.

* Analyse von Oliver Tanzer

Es braucht immer seine Zeit, bis sich ein Gefühl seinen Weg zur Sprache bahnt. Vor allem dieser Tage mündet das Wortschöpfen stets in große Unsicherheit und einen sprichwörtlichen Wankelmut, ein Zustand, wo der Schritt von der Verzweiflung zur unverschämten Selbstberuhigung ein sehr kleiner wird. Tageszeitungen verkünden auf dem Titelblatt die Katastrophe, um im Kommentarteil den Katastrophismus zu verdammen oder den GAU gar zum Mittleren Unfall herunterzustufen.

Das zeigt schon die Ambivalenz in den Redaktionen in einer zum Ratespiel tendierenden Nachrichtenlage. Wie soll der Konsument anders reagieren als mit Skepsis und dem Gefühl, eigentlich niemandem mehr trauen zu können. Täglich scheinen auch hochversierte Experten, die vor drei Wochen noch versichert haben, das Risiko des GAUs abschätzen und mit Tagen bemessen zu können, eines Besseren belehrt zu werden. Die Einschätzungen liegen nun selbst laut Kraftwerksbetreiber schon bei einer möglichen "Jahre dauernden Gefahrenlage“. Unter dem Eindruck der dauernden Korrekturen könnte man unterstellen, dass das Wissen der Ingenieure und Techniker im Kern der Sache ebenso klein ist, wie das unsere.

Wir wissen lediglich, dass etwas Schlimmes vorgeht, dessen Dimension und Ende nicht absehbar ist. Geht man von der relativ präzisen Definition aus, dass ein Super-GAU einen Unfall darstellt, der durch menschliches Zutun nicht mehr zu stoppen ist, dann stehen die Japaner seit Tagen jedenfalls an der Schwelle zu diesem Ereignis. Dass es bisher nicht eingetreten ist, kann kein Grund zur Beruhigung sein, angesichts dessen, was da relativ ungehindert in die Athmosphäre, ins Meer, in den Boden, ins Grund- und Meerwasser dringt.

Nun beginnt sich auch die Konnotation des Vokabulars zu drehen. Nehmen wir einmal den Begriff Restrisiko. Jahrelang beruhigte sich die Menschheit mit ihren mathematischen Millionstel-Wahrscheinlichkeiten. Aber nun stehen wir erstaunt vor einem möglichen Austritt von Plutonium, dessen Halbwertszeit 24.000 Jahre beträgt. Das "Rest“-Risiko entpuppt sich hier als vollkommen verfehlter Begriff, wenn der "Rest“ Schäden in Ewigkeitsdimension bedeutet. Was sind gegen diesen unvorstellbaren Zeithorizont jene Gigawattstunden an Strom, mit denen der Reaktor 3 in Fukushima I die japanische Zivilisation über ein paar Jahrzehnte beliefert hat? Diese Benefizien verblassen ja schon ohne Schadensfall vor der Frage der Endlagerkosten. Ist es nun aber angesichts solcher Szenarien verwunderlich, dass Europäer sich Sorgen um die Zukunft ihrer Gesundheit machen, da ihre Länder mit insgesamt 198 Reaktorblöcken bestückt sind?

Wo ist das Ausstiegsszenario

Das führt in direkter Linie zum Thema Atomausstieg. Wer Atomausstieg sagt, behandelt auch Energiebedarf, Wachstum - und damit wirtschaftliche Entwicklung. Die eine Position dazu lautet, brachial ausgedrückt: Wollt ihr euren Wohlstand und eure Jobs behalten, dann müssen wir wohl das Restrisiko fressen. Die andere Extremposition lautet: "Atomausstieg sofort, umsatteln auf andere Alternativen.“

Zwischen diesen Extremen verbreitet sich die aktuelle politische Planlosigkeit, die sich in Kanzler Faymanns EU-Antiatom-Bürgerbegehren bis zum Atomenergiekongress von Minister Berlakovich windet. Beide Aktionen sind für die europäische Realität irrelevant, solange jede Nation der EU das Recht besitzt, seine Energieerzeugungsformen frei zu wählen.

Abseits der üblichen tagespolitischen Plattitüden mangelt es der Diskussion aber beinahe vollständig an haltbarem Datenmaterial. Bisher hat sich noch keine über jeden Verdacht erhabene Institution bereitgefunden, zu berechnen, wie viel tatsächlich ein gesamteuropäischer Atomausstieg kosten würde. Eine solche Rechnung müsste auch Kalkulationen beinhalten, in welchem Zeitrahmen andere Energieformen so weit entwickelt werden können, dass sie beispielsweise die Kernkraft nicht nur ersetzen könnten, sondern auch den zusätzlichen Energiebedarf von zwei Prozent jährlich decken würden.

Ob Windkraft, Geothermie, Solar- oder Kernenergie: Hier fehlt ein kontinentaler und globaler Investitionsvergleich in Forschung und Entwicklung verschiedener Energieträger. Vielleicht würde man ja feststellen, dass die größten Aufwendungen in die risikoreichste Technologie fließen.

Solange diese Faktoren nicht in verschiedenen Zeithorizonten durchgerechnet und quantifiziert sind, wird sich die Diskussion über den Ausstieg aus der Atomenergie zwischen Zukunftsverantwortung und Wachstumsdogma aufreiben. Geht es nach der Entscheidungskraft der politischen Eliten, wird dieses Gekreise noch lange so weitergehen. Letztlich bleibt es eine Frage des Restrisikos, das auch in Europa obsiegen und alle Illusionen der Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzen kann. Spätestens dann wird es heißen: "Wo ist eigentlich der Plan?“

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