Die DDR höret nimmer auf!

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Vor zehn Jahren begaben sich DDR-Menschen nach Ungarn, um unbedingt oder eventuell in den Westen abzuhauen. Auf den Zeltplätzen nahe der Grenze zu Österreich wurde die DDR Abend für Abend lebendig. Am Lagerfeuer diskutierten sie die Fluchtmöglichkeiten durch. "Jetzt mache ich erst mal in Ruhe meinen Urlaub, den habe ich mir verdient, abhauen kann ich später auch noch!", soll ein Mann gesagt haben, der die gruseligsten Geschichten aus der DDR erzählte. Er arbeitete im sowjetisch kontrollierten Uranbergbau bei Aue und witzelte immer gut gelaunt: er strahle so, weil er schon viel radioaktives Erz transportiert habe.

Andere wollten nicht nachstehen und gaben traurige, bedrückende, schreckliche Erlebnisse preis. Ein Zeltplatz schien sich die DDR aus den Köpfen zu erzählen. Sie redeten sich von dem Lande förmlich frei. Und hielten es dadurch lebendig - eine Art Geisterbeschwörung, die bis heute anhält. Sie reaktiviert den Staat DDR unaufhörlich. Oder das, was man als DDR ansieht. Durch ihr vereini-gungsbedingtes Verschwinden wurde der Prozeß der Auseinandersetzung mit der DDR abgebrochen. Denn es gab immerzu aktuellere Probleme. Und für viele DDR-Bürger war der aus dem Fernsehen bekannte Westen nicht mit dem nach der Wende erlebten identisch. Natürlich existierten falsche Vorstellungen und zu viele Erwartungen. Und der bundesdeutsche Westen v.D.G. (vor Deutschlands Geburt) war nicht mehr der danach. Die Währung wird umgestellt, neue Postleitzahlen, selbst Rundfunksender wie RIAS (die Stimme der Freiheit für viele DDR-Bürger) gibt es nicht mehr. Die Westdeutschen haben halt andere Probleme, als fortwährend die Integration ihrer neuen Mitbürger zu bedenken. Und die haben ein für das realsozialistische Europa einmaliges Anspruchsniveau und messen sich nur an der Bundesrepublik. Vielleicht noch an anderen Ländern Westeuropas, keinesfalls an Polen oder Ungarn. Von Rumänien oder Rußland ganz zu schweigen. Die DDR nach der DDR ist keine DDR mehr, sondern ein leicht knetbares Material, aus dem sich jeder ein eigenes Bild zurechtdeutet. Jeder trägt jetzt seine eigene DDR im Kopf. Die DDR-Erfahrungen sind nicht ohne weiteres ins Altbundesdeutsche übersetzbar. Das wird leicht zur Erfahrung einer umfassenden Differenz Ost/West hochstilisiert. Dabei sind die grundlegendsten Differenzen immer jene, die Menschen in ähnlichen Situationen erzeugen. Selbst vor zehn Jahren während der Fluchtwelle waren die Erlebnisse von DDR-Bürgern sehr verschieden.

Als Ende August 89 lauter Ungarnbesucher rückkehrbereit die Gangway zum Flugzeug nach Ostberlin hochschritten, kamen viele noch mit der "Bild"-Zeitung in der Hand. Eine verbotenere Zeitung gab es in Ostberlin kaum - und das nicht wegen des Boulevard-Zeitungsstils. Schweigend saßen dann alle im Flugzeug, kein Platz blieb unbesetzt. Man war mit sich beschäftigt. Und den Zeitungen. Nach und nach richteten sich die ausgebreiteten Blätter vor den Gesichtern auf. Die Hälfte der Menschen las wieder das kostenlos gereichte "Neues Deutschland". Es genügte der Blick auf das Titelblatt: (noch) nichts hatte sich geändert. Die andere Hälfte der Fluggäste blätterte amüsiert und offen in der "Bild". An diesem Tag der immer weiter ausschwappenden Fluchtwelle von DDR-Bürgern bezog sich die Schlagzeile auf einen von Erich Honecker an Udo Lindenberg verschenkten Hut: "Honeckers Hut ist schon drüben." Während des Fluges blieben beide Zeitungsfraktionen bei ihren Blättern. Etwas hatte sich verändert. Ein Flugzeug selbstbewußter DDR-Bürger kehrte zurück. Zum ersten Mal freiwillig. Sie hätten ja abhauen können. So bescherte der Prozeß der DDR-Auflösung generell viele angenehme oder als beeindruckend empfundene Erlebnisse. Sie prägen die DDR-Erinnerungen auch. Und die DDR war schon damals in zwei Teile zersprungen: der eine hielt noch zum "ND", der andere klammerte sich an den Westen. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Man gibt seinen Glauben nicht so schnell auf: an den Westen a la Bundesrepublik oder an den Osten, der an Wert zu gewinnen scheint. Für alles gibt es Erklärungen und Theorien. Bei Niederschrift dieses Textes lieferten Psychoanalytiker und Psychotherapeuten auf einem Kongreß in Berlin wieder neue Deutungsversuche. Die deutsche Vereinigung zeige, meinen sie, daß es bei vielen Menschen in den neuen Ländern eine produktive Bewältigung gegeben habe. Andere wiesen aber regressive Tendenzen auf, es komme zu rückschrittlichen Prozessen. "Nicht selten erreichen die Regressionen pubertäres Niveau." So ist es. Aber wohin mit diesen Wahrheiten? (Viele) Österreicher bestehen auf ihrem Haider, mag die Welt auch schimpfen - und (zu) viele Ossis wollen die PDS. Wie reagierten meine Eltern damals auf Westmeldungen über verstrahlten Salat nach der Tschernobyl-Katastrophe? Sie verspeisten trotzig besonders viel.

Die DDR ist so sehr DDR wie noch nie. Oder sie scheint kaum vorstellbar und längst vergangen. Die einen befassen sich zuviel mit der DDR, die anderen gar nicht.

Der Autor lebt als Schriftsteller im Osten Berlins. 1952 in Jena geboren, setzte sich der Dissident für die Öffnung der Stasi-Archive ein. In seinem Erzählungsband "Sisyphos" reflektiert er die Vereinigungsprobleme Deutschlands.

Zum Dossier Zehn Jahre nach dem Mauerfall, dem glücklichsten Tag der Deutschen am 9. November 1989. Zehn Jahre schwieriges Zusammenwachsen zwischen Euphorie und Verzweiflung. Was ist von der DDR geblieben? Was ist aus Deutschland geworden? Antworten darauf geben DDR-Dissident Lutz Rathenow und der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere im Furche-Dossier.

Redaktionelle Gestaltung:Wolfgang machreich

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