Die Dui-Leser-Elegien

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Der Sozialphilosoph und langjährige Furche-Kolumnist Norbert Leser blickt in seiner "Elegie auf Rot" besorgt auf die SPÖ und die Demokratie.

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Der Sozialphilosoph und langjährige Furche-Kolumnist Norbert Leser blickt in seiner "Elegie auf Rot" besorgt auf die SPÖ und die Demokratie.

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Nach "Begegnung und Auftrag" (1963) und "Salz der Gesellschaft" (1988) legt Norbert Leser mit diesem Buch den Abschluß seiner Trilogie über den österreichischen Sozialismus vor. Es ist den enttäuschten Sozialisten inner- und außerhalb der SPÖ gewidmet. Heinrich Kellers Vorwort stimmt im wesentlichen Lesers Analyse der Entwicklung der SPÖ zu. Er hebt den Übergang von der allgemeinen Politisierung und Demokratisierung unter Kreisky zu einer Entpolitisierung unter seinen Nachfolgern Vranitzky und Klima hervor. Es gebe aus sozialdemokratischer Sicht weder Reformvorhaben noch politische Inhalte. Es gehe nur um die Erhaltung und Verteidigung bestehender Machtpositionen. Das sozialdemokratische Jahrhundert sei nicht, wie Ralf Dahrendorf meine, zu Ende gegangen, es sei von der SPÖ durch Anpassungen an den neoliberalen Mainstream aufgegeben worden.

Macht macht rechts Leser geht es nicht um Anpassungsstrategien, sondern um alte Grundsätze und ihre Erneuerung. Der Übergang von einer Gesinnungsgemeinschaft mit großem Ethos zur erfolgreichsten Staats- und Volkspartei hat seine Konsequenzen. Vereinfacht gesagt: "Regieren macht rechts", die Anpassung an eine "neue Mitte" verlangt eine Fülle von Zugeständnissen, und in einer permanenten Koalition gibt es nur Kompromisse. Dementsprechend plädiert Leser seit langem - wie auch andere - für eine sozialdemokratische Wende durch den Gang in die Opposition und um den Preis der Machtlosigkeit. Praktiker der Politik warnen aber in beiden Regierungsparteien vor diesem Schritt. Die ÖVP hat ihn seinerzeit nicht zu ihrem Vorteil getan. Dabei ist sie eine Bürgermeister- und Länderpartei, was die SPÖ nur zum Teil ist.

Die "Elegie" gliedert sich in vier Teile. Der erste behandelt den Niedergang der Sozialdemokratie und den Schrumpfungsprozeß der SPÖ, der zweite sachliche und regionale Aspekte, vor allem "Fälle"; der dritte ist "Demokratie oder Demokratur" übertitelt und analysiert die politische Klasse, Parteien, Wahlrecht, Koalition, Parlamentarismus, Bundespräsident und Verfassungsgerichtshof, der vierte Teil stellt "fragwürdige Alternativen" und "trübe Aussichten" zur Diskussion.

Das Buch ist sehr österreichisch. Seinem Autor geht es um die SPÖ und um die österreichische Demokratie; es entstand aus Besorgnis über beide. Leser mußte sich das Buch "vom Herzen schreiben". Die Lage der Welt und Europas im besonderen ist weitgehend ausgeklammert. Das Buch ist sehr persönlich. Es ist nicht nur eine "politische Konfession". Lesers persönliche Meinung und sein unabhängiger Charakter prägen das Buch. Wer ihn kennt, kennt es. Er schreibt, wie er spricht, und er spricht, wie er denkt. Deshalb ist es auch spannend zu lesen.

Parlamentarismuskrise Er nimmt die SPÖ vielleicht allzu wichtig. Aber er nimmt sie nicht wichtig, weil sie die mächtigste Partei ist, sondern weil sie für ihn wichtig ist. Das gilt auch für die österreichische Demokratie. Er stellt nicht die Frage, ob wir überhaupt noch ein Staat sind, und ob wir uns nicht mehr mit europäischen als mit österreichischen Institutionen beschäftigen sollten. Er setzt sich mit letzteren wie seit Jahrzehnten auseinander. Immer wieder hat er auf die positive Bilanz im Vergleich zur unglücklichen Ersten Republik hingewiesen. Wiederholt hat er gewarnt, wie gefährlich es wäre, sich auf welkenden historischen Lorbeeren auszuruhen. Schon vor Jahrzehnten kritisierte er die Tendenz von SPÖ und ÖVP, sich auf möglichst viele Bereiche auszudehnen, alles Organisierbare zu organisieren, zu integrieren und zu okkupieren. Noch heute sind überall Spuren zu erkennen.

Leser war nie ein therapeutischer Nihilist. Er hat immer Reformen vorgeschlagen. Dazu gehört sein Plädoyer für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht und gegen die Große Koalition. Sie sollte Ausnahme, nicht Regel sein. Ein mehrheitsförderndes und persönlichkeitsnahes Wahlrecht würde Alternativen zur derzeitigen Regierungsform bieten und die Abgeordneten gegenüber den Parteien stärken. Wie die Oppositionsparteien hält er unseren Parlamentarismus für gelähmt. Die Blockierung durch die beiden Parteien, die Regierung und Parlament umklammert halten, mit Zweidrittelmehrheit durch punktuelle Sonderregelungen über die Verfassung "drüberfahren" und so die Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs ausschalten können, ist ihm seit langem eines unserer großen staatsrechtlichen Probleme. Im Gegensatz zu führenden Sozialisten, welche die Politik vor dem Verfassungsgerichtshof schützen wollen, will er diesen vor den Politikern schützen, die versuchen, sich seiner Kontrolltätigkeit zu entziehen.

Die Herausbildung einer politischen Klasse, die Hand in Hand mit dem Machtkartell der Großen Koalition gehe, verhindere beim bestehenden Wahlrecht einen Wechsel des Regierungssystems und eine Ablöse der Eliten. Beides aber sei notwendig, um das demokratische System lebensfähig und glaubwürdig zu erhalten. Da es diesbezüglich keine Unvereinbarkeiten gibt, schicken Interessenverbände durch ihre Parteien aufgrund des Listenwahlrechts Vertreter ins Parlament, ohne daß diese um ein Mandat kämpfen müssen. Die Vereinbarkeit der Stellung als öffentlich Bediensteter und Mandatar ist sogar durch die Verfassung gewährleistet. Die Unvereinbarkeitsbestimmungen seien ebenso reformbedürftig wie die Regelungen, welche nur der Mehrheit das Recht geben, Untersuchungsausschüsse einzusetzen.

Seit Jahrzehnten wünscht sich Leser einen Bundespräsidenten, der von seinen rechtlichen Möglichkeiten nicht zurückhaltend Gebrauch macht, sondern eine aktivere Handhabung seines Amtes sich zur Pflicht macht. Gerade in einer Zeit der Abnutzung der Parteien hätte ein starker Präsident die Möglichkeit, Autorität im guten Sinne walten zu lassen.

Die Frage des Wahlrechts und die nach der geeignetsten Regierungsform durchzieht wie ein rot-weiß-roter Faden die Reformdiskussionen seit Jahrzehnten; man braucht nur an "Zeit zur Reform" (Diem/Neisser 1969) oder "Demokratie und Verfassung" (Pelinka/Welan 1971) zu erinnern. Gesellschaft und Parteienlandschaft haben sich aber wesentlich geändert. Im Hinblick darauf kann man heute nicht mehr so leicht für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht eintreten wie in den siebziger Jahren; entscheidungsfähig kann auch nicht mit regierungsfähig gleichgesetzt werden. Trotzdem ist insbesondere der staatsrechtliche Reformstau evident. Eine Gesamtreform, welche Wahlrecht, bundesstaatliche Organisation, Parlamentarismus, Regierungssystem u. a. m. umfaßt, ist aber aller Erfahrung nach unmöglich. Trotzdem sollte man unzeitgemäße Regelungen wie die der Unvereinbarkeit und der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen einer Modernisierung unterziehen.

Idealisten & Realisten Österreichs Intellektuelle sind meist Idealisten, welche die Realität an einem hohen Maßstab messen; sie sehen daher besonders Defizite und Defekte. Politische Akteure sind mehrheitlich Realisten und messen durch Vergleiche mit anderen Ländern, Zeiten usw. Als Regierungsleute sehen sie mehr die Erfolge und Effekte. Ausnahmen wie Neisser bestätigen die Regel. Die beiden Sichtweisen führen dazu, daß die Lage unterschiedlich interpretiert wird. Wenn Leser schreibt, "Ich jedenfalls habe mit diesem Buch, das ich mir vom Herzen schreiben mußte, meine politischen Werke abgeschlossen, und habe vor, mich im Rest der mir verbleibenden Zeit mit würdigeren Themen zu beschäftigen", so ist das zu bedauern, aber zu respektieren. Aber sollen, können, dürfen, müssen diese "Dui-Leser-Elegien" seine letzte politische Auseinandersetzung sein?

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