Die dunkelsten Minuten der Nacht

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Die Hoffnung nicht aufgeben: Während Israel von einer beispiellosen Serie von Selbstmordanschlägen erschüttert wird, erhalten Uri und Rachel Avnery in Stockholm einen der alternativen Nobelpreise für ihre Friedensarbeit im Heiligen Land.

Die Jury ehrt die Avnerys und alle Aktivisten von Gush Shalom für ihre unerschütterliche Überzeugung, dass der Friede, trotz der schwierigsten und gefährlichsten Umstände, nur durch Gerechtigkeit und Versöhnung erreicht werden und so auch dem Terrorismus ein Ende gesetzt werden kann." Gerade in diesen Tagen der Verleihung (7. Dezember) eines der von Jakob von Uexküll gestifteten "Right-Livelihood-Awards 2001" an Uri und Rachel Avnery und ihre Organisation "Gush Shalom" (Friedensblock) erhält die Jury-Begründung traurige Aktualität.

"Ich bin zu alt, um jetzt noch Pessimist zu werden", meint Uri Avnery und streicht sich während des Geprächs mit der Autorin mit seinen schmalen Händen durch das schneeweiße Haar. "Ich bin zu alt, damit meine ich, ich habe soviel gesehen und weiß, wieviel wir im Laufe der Zeit erreicht haben. Ich weiß ganz einfach, dass das, was noch vor uns liegt, nur ein Bruchteil dessen ist, was wir schon hinter uns haben. Die Leute akzeptieren heute, dass es ein palästinensisches Volk gibt, sie akzeptieren, dass es keinen Frieden ohne einen Staat Palästina geben kann. Das war nicht immer so."

Uri Avnery, als zehnjähriger Helmut Ostermann mit seinen Eltern nach Palästina geflüchtet, ist Teil der Geschichte Israels. Mit 15 Jahren schloss er sich der radikalen Untergrundorganisation Irgun an. "Wir nannten uns Befreiungskämpfer, heute würde man das wohl eine Terroristenorganisation nennen", erklärt er. Sie haben mit Waffengewalt gegen die englischen Besatzer aber auch gegen die Araber gekämpft. Fünf Jahre später ist er ausgestiegen, weil er sich nicht mehr mit den Zielen und den Methoden der Irgun identifizieren konnte. Noch vor der Gründung des Staates Israel und während des Unabhängigkeitskrieges schrieb er daraufhin Artikel, in denen ein Gedanke im Vordergrund stand: "Wenn dieser Krieg vorbei ist, ist es unsere erste Pflicht, Frieden mit den Palästinensern zu machen, sonst werden wir hier niemals Frieden haben."

Lauter Taubstumme

1993 rief er mit Gush Shalom eine neue Friedensbewegung ins Leben. Der Grund dafür war, dass die bestehenden Friedensbewegungen, allen voran "Peace Now", der im Vorjahr an die Macht gekommenen Arbeiterpartei Yitzhak Rabins zu nahe standen und keine es wagte, die neue und fragile Macht der Partei in Frage zu stellen. Gush Shalom versuchte dieses unkritische Vakuum zu füllen. Ein Ziel der Organisation ist es, den israelischen Mitbürgern die Wahrheit über die Zustände in den besetzten Gebieten und die Hintergründe der Friedensverhandlungen und deren Scheitern zu verdeutlichen. Alles Dinge, die die israelischen Medien verschweigen. Seit Beginn der zweiten, der Al-Aksa-Intifada, im Oktober letzten Jahres, ist die Berichterstattung bis auf wenige Ausnahmen, zur Regierungspropaganda verkommen, wovon sich die Autorin erst kürzlich wieder selber überzeugen konnte.

Uri Avnery dazu befragt: "Darum sehen wir unsere Hauptaufgabe darin, es beiden Völkern zu ermöglichen, die je andere Geschichte zu begreifen. Ohne dem haben sie völlig hirnverbrannte Ideen voneinander, und wenn sie einander dann treffen und versuchen miteinander zu reden, ist es wie ein Dialog von Taubstummen."

Die derzeitige Stimmung im Land ist trostlos, nahezu defätistisch. Jeder Zweite sagt auf die Frage nach der Zukunft: "Es wird Krieg geben." Trotzdem oder gerade deswegen bekommen die Friedensbewegungen neuen und diesmal vor allem jungen Zulauf. Am 2. November haben friedensbewegte Menschen die völlig apolitisch geplante Trauerfeier zum Jahrestag von Rabins Ermordung in eine hochpolitische Kundgebung umgemünzt, bei der mehr als 100.000 Menschen in Tel Aviv auf die Straße gingen.

Für solche Aufbrüche gibt es auch eine theoretische Basis. Gush Shalom hat 80 Thesen ausgearbeitet, in denen versucht wird, die beiden Erzähltraditionen zusammenzuführen, sodass nun viele Menschen beginnen, die je andere Seite zu verstehen. Das ist das eine. In der Oktober-Nummer der Zeitschrift Gush Shaloms, Das andere Israel, wurde zum anderen ein Entwurf für ein Friedensabkommen veröffentlicht, von dem Uri Avnery sagt: "Wir sind überzeugt, dass das für beide Seiten sehr schwer, sehr schmerzlich ist, aber angenommen werden könnte. Wir haben gezeigt, dass Frieden möglich ist, dass aber ein hoher Preis dafür zu bezahlen sein wird. Unsere Frage: Seid ihr bereit, diesen Preis zu zahlen oder wollt ihr einen Krieg ohne Ende. Wir haben immer schon gesagt: Unsere Lösung ist nicht die beste, es ist die einzige."

Diese fundierte Arbeit, die jeder der beiden Seiten zeigen soll, dass die je andere weder aus Teufeln, Dämonen, Untermenschen und Mördern besteht, sondern aufgrund ihrer je eigenen Vorurteile und Traumata so und nicht anders gehandelt hat, dies und die penible Arbeit an dem Vertragsentwurf haben mit zur Begründung des Alternativen Nobelpreises beigetragen.

Dieser Preis wird, so hoffen alle, nicht nur im Ausland beachtet werden, sondern auch die Stimmung im eigenen Land verändern. Uri Avnery: "Wir haben jetzt eine Art Rückschlag. Vielleicht ist es wirklich so, wie man sagt: Die Minuten vor der Morgenröte sind die dunkelsten Minuten der Nacht. Wir sind jetzt allerdings, das muss ich zugeben, in einer sehr, sehr dunklen Minute, das ist klar."

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