Die Entzauberung des "Wutbürgers“

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Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 hat gezeigt: Eine laute Minderheit ist noch keine Mehrheit. An Stoff für künftige Konflikte mangelt es indes nicht.

Ein Journalistenkollege meinte am Tag nach der Abstimmung, dieser Sonntag sei eine Zäsur gewesen. Das könnte tatsächlich in dem an direkter Demokratie ähnlich wie Österreich armen Deutschland so sein. Otmar Jung, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, sagte vor der Abstimmung in einem Radiointerview, es handle sich dabei um ein seit Jahrzehnten bestehendes Volksrecht, das "bislang toter Buchstabe“ gewesen sei.

Noch eines zeigen die 58,8 Prozent für den Weiterbau von Stuttgart 21: Baden-Württemberg ist nicht Stuttgart. Im übrigen Land, aus der Distanz, stehen die Bürger dem Projekt anders gegenüber als jene in dessen unmittelbarer Nachbarschaft, die es seit Monaten so verbissen bekämpfen.

Medial aufgeplustertes Phänomen

Gleichzeitig wurde klar, dass es sich mit dem Wort vom "Wutbürger“ um ein Phänomen wie jenes von der "Berliner Republik“ handelt. Es wird medial zu beeindruckender Größe aufgeplustert, doch irgendwann fällt es wie Germteig in sich zusammen, und man entdeckt, dass eigentlich nur Luft drinnen war.

Unmut und Politikverdrossenheit in der Gesellschaft gibt es schon lange, nicht nur in Deutschland. Und dass es sich um keine Volksbewegung handelt, bewies das Ergebnis vom Sonntag deutlich und nüchtern: Es handelt sich um eine laute Minderheit, die Mehrheit zeigt sich am Aktionismus desinteressiert. Möglicherweise ist sie dies aber nur so lange, bis ein Bauprojekt die eigenen Kreise zu stören beginnt: "Not in my backyard“ heißt die Formel für dieses Denken, das Akronym "Nimby“ steht für ihre Exponenten.

Im Sommer 2007 lud die Deutsche Bahn Journalisten zur Besichtigung der geplanten Trasse von Stuttgart 21. Denn dabei geht es nicht nur um die Untertunnelung des Hauptbahnhofs, sondern um den Ausbau der Strecke zwischen Ulm und Stuttgart im Zuge der von der EU festgelegten Eisenbahnachse Paris-Wien-Bratislava der Transeuropäischen Netze (TEN). Damals war nichts von Protest zu bemerken, erst als die Baumaschinen auffuhren, erwachte der Widerstand. Da hatten die Bürger, die in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden wollten, allerdings den Zug schon verpasst, da sie sich nicht zeitgerecht informiert hatten und die Bahn das Baurecht hat. Insofern war die nachträglich draufgesattelte Volksabstimmung auch nur wieder Ausdruck politischen Kalküls.

Es ist ein bezeichnender Zufall, dass die Volksabstimmung just während jener Tage stattfand, als der bisher teuerste und längste Castor-Transport mit Atommüll von La Hague nach Gorleben unterwegs war. Gegen die Castor-Transporte wird schon seit vielen Jahren heftig demonstriert. Niemand sprach allerdings von "Wutbürgern“, da es sich bei denen, die die Züge zu blockieren versuchten, um die scheinbar üblichen Verdächtigen handelte: Linke Studenten, Friedensbewegte, Öko-Fundis, Autonome. Dass im Emsland, also der Region um Gorleben, auch die Landwirte an den Aktionen teilnehmen und sich heftig gegen ein Atommülllager stemmen, wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Als die Bilder der brutalen Polizeieinsätze in Stuttgart, insbesondere das Foto eines übel zugerichteten Rentners, durch die Medien gingen, hatte der deutsche Demonstrant plötzlich ein anderes, ein neues Gesicht bekommen. Deshalb musste er auch einen neuen Namen erhalten. So wurde der Bürger, der eigentlich ein klassischer "Nimby“ war, zum "Wutbürger“.

Die Angst der Politiker

Doch die Zeit der Konfrontationen ist mit der Volksabstimmung vermutlich nicht zu Ende: In Stuttgart nicht, wo Anfang nächsten Jahres mit dem Abriss des Hauptbahnhofs begonnen wird, was neuen Protest erwarten lässt.

Aber auch in ganz Deutschland nicht, denn die Infrastruktur harrt ihres Ausbaus: Neben dem Ausbau des Schienenverkehrs müssen auch dringend die Stromnetze ausgebaut werden; nach dem Ausstieg aus der Atomenergie erhalten die erneuerbaren Energien schlagartig mehr Gewicht. Die großen Windparks stehen allerdings im Norden des Landes, die Masse der Abnehmer befindet sich im Süden. 3600 Kilometer neue Hochspannungsleitungen müssen in den nächsten Jahren quer durch das Land gebaut werden. Noch halten sich die Politiker mit Entscheidungen zurück. Wohl auch, weil sie den Widerstand in der Bevölkerung fürchten.

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