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Die Gesetzesflut: Nur schwer einzudämmen

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11.000 Beschwerden in derselben Sache brachten den Verfassungsgerichtshof in Bedrängnis. Ist das Höchstgericht seinen Aufgaben zukünftig gewachsen? Präsident Ludwig Adamovich im FURCHE-Interview.

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11.000 Beschwerden in derselben Sache brachten den Verfassungsgerichtshof in Bedrängnis. Ist das Höchstgericht seinen Aufgaben zukünftig gewachsen? Präsident Ludwig Adamovich im FURCHE-Interview.

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DIE FURCHE: Sie haben kürzlich vor der Überlastung des Verfassungsgerichtshofes gewarnt Aus welchem Anlaß?
Ludwig Adamovich
: Wir wurden mit einer „Serie” konfrontiert, dem gar nicht so seltenen Fall, daß zu derselben Rechtsfrage eine größere Anzahl von Personen Beschwerden einbringt. Die Zahlen schwanken meist zwischen zehn und 100. Es gab auch schon Serien mit 1.000. Aber diesmal waren es 11.000! Diese Angelegenheit wurde zwar abgeschlossen. Aber man sollte nach Tunlichkeit verhindern, daß sich so etwas wiederholt.

DIE FURCHE: Und zu welchem Thema?
Adamovich: Die Mindestkörperschaftssteuer. Es war von einer Interessenvertretung organisiert. Auch wenn die Angelegenheit relativ einfach erledigt wurde, so ist doch zu sagen: Allein die kanzleimäßige Erfassung der 11.000 Fälle hat einen unglaublichen Aufwand verursacht.

DIE FURCHE: Ist der Verfassungsgerichtshof darüberhinaus überlastet?
Adamovich: Im großen und ganzen kommen wir zurecht - allerdings unter der Voraussetzung, daß es keine Kürzungen beim nicht-richterlichen Personal (die Beferenten des Gerichtshofes haben zwei Juristen und eine Sekretärin als Mitarbeiter) gibt. Sollte sich im Zuge der Sparmaßnahmen daran etwas ändern (was bisher nie der Fall war), so würde uns das in sehr ernste Schwierigkeiten bringen.

DIE FURCHE: Die steigende Zahl der Gesetze ist also kein Problem?
Adamovich: Schon, aber eher noch die Gesetzestechnik. Sie läßt immer mehr zu wünschen übrig. Vor allem neigt man dazu, in einem Gesetzgebungsakt ein Menge von Novellen zusammenzufassen. Das trägt nicht zur Übersichtlichkeit bei und erleichtert uns nicht die Arbeit. Deswegen allein würde ich aber nicht Alarm schlagen.

DIE FURCHE: Also keine totale Überforderung wie beim Verwaltungsgerichtshof?
Adamovich: Derzeit nicht.

DIE FURCHE: Welche Herausforderung stellt die EU-Mitgliedschaft für das Verfassungsgericht dar?
Adamovich: Erstens treten Rechtsfragen auf, die mit dem Verhältnis Europarecht und nationales Becht zu tun haben. Zweitens hat der Verfassungsgerichtshof sein bisheriges Monopol auf Normenkontrolle verloren. Das Europarecht ist außerhalb seiner Kontrolle. Es ist gegebenenfalls anzuwenden, es ist auch festzustellen, ob in einem konkreten Fall das Europarecht Vorrang hat. Aber Europarecht kontrollieren darf der Verfassunsgerichtshof nicht. Das ist ausschließlich Sache des Europäischen Gerichtshofes.

DIE FURCHE: Europarecht kann nicht verfassungswidrig sein?
Adamovich: Nein, außer im extremsten Fall eines Exzesses der Luxemburger Organe - das müßte schon ein ganz krasser Fall sein.

DIE FURCHE: Besteht ein Instanzenzug zum Europäischen Gerichtshof?
Adamovich: Das Europarecht steht, wenn man will, neben oder sogar über dem innerstaatlichen Becht. Daher kann man nicht von einem Instanzenzug sprechen.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie ganz allgemein das Problem der steigenden Zahl von Normen?
Adamovich: Dieses Problem hat verschiedene Ursachen: Da ist zunächst die Expansion der Staatsauf gaben. Wenn man am Legalitätsprinzip der österreichischen Verfassung (es besagt, daß die staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf) festhält und vom Staat erwartet, daß er sich mit allen möglichen Fragen ordnend und leistend beschäftigt, darf man sich über die steigende Zahl der Gesetze nicht wundern. Der zweite Aspekt ist, daß alles komplizierter wird -vor allem auf technischem Gebiet. Es gibt heute viele Materien, die vor 100 Jahren keine Rolle gespielt haben, etwa das Sozial-, das Ümweltschutzrecht. Und: Manches Gesetz schreibt zu viele Details fest. Auch auf Unzulänglichkeiten in der Ausdruckweise sei hingewiesen. Es ist schwieriger, das Wesentliche mit wenigen als mit vielen Worten zu sagen.

DIE FURCHE: Kann man nichts gegen die Entwicklung tun?
Adamovich: Sicher gibt es das Thema der Deregulierung: Zieht sich der Staat von gewissen Gebieten zurück, so gibt es weniger Regelungen. Es geht weiters um eine Verringerung der in den Gesetzen vorgesehenen Maßnahmen: Es ist nicht egal, ob Sie in einem Verfahren fünf Bewilligungen brauchen oder nur eine einzige. Da könnte einiges verbessert werden. Übrigens zerbrechen sich viele über diese Fragen den Kopf. Bundeskanzler Bruno Kreisky hat 1979 die Parole ausgegeben, man müsse die Bechtsordnung durchforsten und überflüssige Bewilligungen abbauen. Damals war ich im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes tätig. Wir haben eine Umfrage gemacht. Alle waren sich einig: „Eine großartige Idee, aber wo es um unsere Interessen geht, da darf nichts passieren.”

DIE FURCHE: Darf man aber bei dieser Gesetzesflut dem Staatsbürger zumuten, alle Gesetze zu kennen?
Adamovich: Das ist sicher ein zentrales Problem. Nur: Was ist die Alternative? Stellt fnan sich diese Frage, dann wird die Sache schwierig. Drei Dinge stehen allerdings außer Streit: Der Staat kann sich aus einigen Aufgaben zurückziehen, man kann die Intensität der Regelungen zurücknehmen und die Gesetzestechnik verbessern. Alles andere ist schwierig. Verschärft wird das Problem der Gesetzesflut dadurch, daß das Gemeinschaftsrecht als zusätzliche Rechtsquelle dazukommt. Auch sie ist kein Muster an Transparenz.

DIE FURCHE: Trägt der Pluralismus der Gesellschaft zur Überregulierung bei?
Adamovich:
Ganz sicher. Kann man nämlich verschiedener Meinung darüber sein, wie eine Sache geregelt wer: den soll, dann muß der Gesetzgeber eben eine Entscheidung treffen. Wo es eine ideologisch monolithische Gesellschaft gibt, ist alles viel einfacher. Die Volksrepublik China etwa hat eine sehr dünne Rechtsordnung - obwohl sich auch dort einiges entwickelt.

DIE FURCHE: Welche Aufgaben hat der Verfassungsgerichtshof?
Adamovich:
Sehr viele, nur sind sie von unterschiedlicher Redeutung. Einzelne Kompetenzen werden sehr häufig genützt, andere sind totes Recht. Mit Abstand am öftesten wird die Überprüfung von höchstinstanzlichen Verwaltungsakten in Anspruch genommen: Jemand behauptet ein Verwaltungsakt verstoße gegen Grund- und Freiheitsrechte oder er sei aufgrund ei-, ner Rechtsvorschrift erlassen worden, die gesetzes- oder verfassungswidrig ist. An zweiter Stelle folgt die Normenkontrolle: Sind Gesetze verfassungsmäßig, Verordnungen gesetzmäßig? Diese Prüfung kann auch von amtswegen eingeleitet werden, meist im Gefolge einer Reschwerde gegen einen Verwaltungsakt. Bei der Mindestkörperschaftssteuer - den 11.000 Akten, von denen die Rede war - geschah dies. Der Gerichtshof hat aufgrund der in den Beschwerden gegen die Verwaltungsakte der Finanzbehörden geltend gemachte Verfassungswidrigkeit des Gesetzes von amtswegen ein Verfahren zu dessen Überprüfung eingeleitet. Eine weitere wichtige Kompetenz ist die Überprüfung von Wahlen. So ist etwa die Nationalratswahl 1995 in Donnerskirchen und in einem Wahlsprengel in Reutte aufgehoben worden.

DIE FURCHE: Und das tote Recht?
Adamovich: Die Ministeranklage durch das Parlament wurde noch nie geltend gemacht. Es ist ein Recht der einfachen Mehrheit. Immer wieder wird diskutiert, daraus ein Oppositionsrecht zu machen. Das ist allerdings problematisch: Hätte etwa ein Drittel der Abgeordneten das Recht, eine Ministeranklage einzubringen, ist die Gefahr, daß jemand zu Unrecht in eine äußerst prekäre Lage gebracht wird, extrem groß. Bisher gab es drei einschlägige Fälle von Staatsgerichtsbarkeit, samt und sonders gegen Landeshauptleute gerichtet: In der ersten Republik zweimal gegen den Wiener Bürgermeister und 1985 die Causa Haslauer.

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