Die gestohlene Revolution

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Ägyptens Präsident Mursi versucht, seine Gegner zu beschwichtigen, mit wenig Erfolg. Die Proteste auf dem Tahrirplatz schwellen an.

Kurz vor einem Massenprotest gegen die Machterweiterung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi am Dienstag suchten der Staatschef und die ihm verbundene Muslimbruderschaft sich ohne Gesichtsverlust durch die Krise zu manövrieren. So haben die Islamisten zwar eine Massenkundgebung in Kairo abgesagt, um, wie es hieß, der Gefahr von Zusammenstößen mit den Mursi-Gegnern zu entgehen. In der Küstenstadt Alexandria aber marschierten Muslimbrüder und ultrakonservative Salafisten in einer Solidaritätskundgebung für Mursi. In Assiut in Oberägypten sammelten sich Tausende Studenten der Ashar-Universität vor dem Sitz des Gouverneurs und begrüßten Mursis Entmachtung der Juristen mit dem Satz "Das Volk will die Säuberung der Justiz.“ Essam al-Erian, ein Funktionär der Muslimbruder-Partei "Freiheit und Gerechtigkeit“, nannte die Mursi-Gegner auf dem Tahrir-Platz "Überbleibsel des alten Regimes“.

Mursi hatte sich in seiner Verfassungserklärung zum obersten Hüter der Revolution erklärt. Allerdings rückte er von einem Versprechen ab, das eigentlich ein Zugeständnis an die Aktivisten war: Er hatte zugesagt, die Verfahren gegen Mubarak und seine Funktionäre wieder aufzurollen, die viele dank einer mit Mubarak-Getreuen besetzten Justiz als reines Schauspiel sehen.

Putsch oder Stabilisierung

Für dasselbe Verbrechen kann man allerdings nach ägyptischem Recht und Völkerrecht nicht zweimal verurteilt werden. Neue Verfahren, so stellte Mursi nun klar, werde es erst geben, wenn neue Beweise gefunden seien. Dies aber wäre nach ägyptischem Recht ohnehin möglich und hätte eines präsidialen Dekrets nicht bedurft.

Mursi hatte bei einem Treffen mit dem Obersten Justizrat versucht, die Wogen durch eine Erläuterung seiner Verfassungserklärung zu glätten, ohne diese jedoch zurückzunehmen. Er hatte sich in seinem Erlass bis zur nächsten Parlamentswahl juristische Immunität für alle bisherigen und künftigen Entscheidungen gegeben. Diese aber, so stellte ein Sprecher klar, gelte nur für "souveräne Belange“ - eine Formulierung, die im ägyptischen Recht bereits existiert.

Der endlose Übergang

Je nach Auslegung kann sie Angelegenheiten nationaler Sicherheit wie die Ausrufung des Kriegsrechts oder eine Kriegserklärung umfassen oder auch, wie es offenbar Mursi verstanden haben will, auf den Schutz der Verfassungskommission vor der drohenden juristischen Auflösung. Mursi hatte eine beschleunigte Stabilisierung des politischen Übergangs als Grund für seine umstrittene Verfassungserklärung angegeben. Bei allem Widerstand halten viele Ägypter den Schritt für das kleinere Übel im Gegensatz zu einem endlosen Übergang. "Wenn Mursi als Präsident gestürzt wird, geht Ägypten unter“, sagt Hassan, der seinen Nachnamen nicht nennen will, im Kairoer Stadtteil Garden City: "Wir haben keine Verfassung und kein Parlament und jetzt soll das alles noch weiter gehen?“ Der Oberste Richterrat traf sich am Dienstag erneut, um zu beraten, wie mit der Situation umzugehen sei.

Am Morgen vor dem Massenprotest auf dem Tahrir-Platz in Kairo hatte die Polizei Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt. Hunderte sind in den vergangenen Tagen festgenommen worden. Die Opposition wollte am Abend in Sternmärschen auf den Tahrir-Platz ziehen. Am Nachmittag sammelten sich bereits Tausende Menschen auf dem Platz, der seit Tagen für den Verkehr gesperrt ist. "Die Muslimbrüder haben die Revolution gestohlen“, stand auf ihren Bannern.

Aus Süddeutsche Zeitung 28.11.2012

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