Die große Flucht Aus Mossul

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Die unerwartete Invasion der Terror-Organisation IS ("Islamischer Staat"; vormals ISIS) im Irak hat im Juni laut UN0 mehr als 2400 Menschenleben gefordert -darunter mindestens 1530 Zivilisten, mit steigender Tendenz im Juli. Der IS spricht allein von 1700 Schiiten, die in Mossul, der zweitgrößten Metropole Iraks, im Juni exekutiert wurden. Aus Panik vor einem ähnlichen Schicksal haben in den letzten Wochen rund 450.000 Schiiten die Stadt verlassen und versuchen, sich vor den schwarz vermummten Gotteskriegern in Sicherheit zu bringen.

Die sunnitischen IS-Kämpfer haben es primär auf Schiiten, Jesiden und liberale Muslime abgesehen, doch auch die christlichen Bewohner Mossuls wurden mit Entführungen von Pfarrern, Nonnen und Kindern nicht verschont. IS-Truppen haben ihre Zelte im chaldäischen erzbischöflichen Palais aufgeschlagen, während der syrisch-katholische Bischofssitz von ihnen niedergebrannt wurde - samt der Bibliothek, die antike Manuskripte von unschätzbarem Wert beherbergt hat. Erstmals nach 1600 Jahren haben in keiner Kirche Sonntagsmessen stattfinden können. Die letzten in Mossul ausharrenden Familien sahen sich gezwungen, auch aus dieser einst christlichen Hochburg zu fliehen.

Humanitäre Krise

Das folgenschwere Ultimatum, ihre Stadt zu verlassen, ertönte am 18. Juli aus den Lautsprechern der von IS-Truppen besetzten Moscheen nach dem Freitagsgebet: "Wir stellen Euch vor die Wahl: Entweder Ihr konvertiert zum Islam oder zahlt uns eine Schutzsteuer von 200 Dollar pro Kopf. Wer sich weigert, dem bleibt nur der Tod durch das Schwert." Doch während ihrer Flucht Richtung Norden spielten sich an den Checkpoints der IS dramatische Szenen ab: Die Christen wurden gezwungen, sogar das bisschen Geld und Schmuck, was ihnen noch geblieben war, abzugeben. Zudem wurden ihre Autos konfisziert. So blieb den Familien nichts anderes übrig, als den Weg bei 40 Grad Hitze zu Fuß zurückzulegen, bis sie erschöpft die ersten christlichen Dörfer erreichten. Mehr als 10.000 Vertriebene und Heimatlose im eigenen Land, die nie wieder in ihre Häuser zurückkehren können, weil die IS-Kämpfer bereits zuvor ihre Wohnungen zur Plünderung markiert hatten. Viele Flüchtlinge wurden nun in den kurdisch kontrollierten Gebieten in Kirchen und Klöstern aufgenommen. Zunehmend angespannt wird auch die Lage in der sicheren Kurdenhauptstadt Erbil, weil sie keineswegs auf eine solche Flüchtlingswelle vorbereitet war.

Durch die Offensive der sunnitischen IS-Milizen haben die Vertreibungen der letzten Tage laut UNICEF Ausmaße einer großen "humanitären Krise" angenommen. Was der christlichen Bevölkerung bei der großen Hitze vor allem fehlt, ist Wasser. Doch die Trinkwasserversorgung wird derzeit vom IS im Dorf Salamieh am Tigris, 15 Kilometer westlich von Karakosh, kontrolliert. Und die Elektrizitätsversorgung, die direkt aus Mossul kommt, befindet sich ebenfalls in den Händen des IS. Strom gibt es somit nur einige Stunden pro Tag.

Die Benzin-und Lebensmittelpreise sind stark gestiegen. Wenn die Situation eskaliert, wird die Zahl der Christen im Irak weiter dramatisch schrumpfen -von einst mehr als einer Million auf bald nur noch 50.000 Gläubige. "Erstmals in der Geschichte des Iraks gibt es keine Christen in Mossul mehr. Dann ist das christliche Leben im Irak ernsthaft vom Aussterben bedroht", so Louis R. Sako, chaldäisch-katholischer Patriarch von Bagdad. Seinen Mahnruf richtet der Oberhirte an die internationale Staatengemeinschaft: "Schauen Sie nicht gleichgültig zu, sondern unterstützen Sie den Irak mit allen Mitteln, damit das sinnlose Blutvergießen endlich aufhört und rasch eine politische Lösung gefunden werden kann. Die IS-Terrororganisation will einen islamischen Staat mit Ölquellen gründen, um die Welt zu islamisieren!" Noch drastischer ist der Appell des von Mossul nach Karakosh geflüchteten syrischkatholischen Erzbischofs Petros Mouche: "Verschließen Sie nicht die Augen vor der großen Gefahr, die vom IS ausgeht, die auch die Sicherheit in Europa ernsthaft bedroht!"

Der Erzbischof weiß allzu gut, wovon er spricht -hat er doch den jüngsten Angriff der IS-Truppen in Mossul und der nahegelegenen christlichen Hochburg Karakosh miterlebt. In Karakosh und ins umliegende Ninive-Tal hatten bereits seit 2003 mehr als zwei Drittel der irakischen Christen -in Folge von Entführungen, gezielten Morden und Anschlägen -Zuflucht gefunden. Doch nun scheint auch diese mehrheitlich christlich bewohnte Region vor Attentaten nicht mehr sicher. IS-Kämpfer versuchten im Juni mit aller Gewalt in Karakosh einzudringen, wurden aber gerade noch von der kurdischen Peshmerga-Miliz zurückgedrängt. Die plötzlichen Gefechte haben die Bevölkerung in große Angst versetzt. Obwohl es weder Tote noch Verletzte gab, flohen fast alle 40.000 Bewohner der Stadt binnen 24 Stunden Richtung Norden ins sichere Kurdengebiet. Erst als die Peschmergas endgültig die IS-Krieger aus der Stadt vertrieben hatten, wagten die meisten wieder den Weg zurück in ihre Häuser.

Furcht vor Teilung des Irak

Die Furcht ist den Christen seit dem IS-Angriff in den Gliedern stecken geblieben, wie Erzbischof Mouche betont: "Seit der amerikanischen Invasion 2003 werden die Christen durch die muslimische Mehrheit permanent diskriminiert, verfolgt, oft auch getötet. Was bleibt uns, auf lange Sicht gesehen, außer der Flucht übrig? Doch Emigration würde eine baldige Auslöschung der irakischen Christenheit bedeuten. Das wäre ganz im Sinne des IS -doch eine Katastrophe auch für die toleranten Muslime im Land!"

Kann der Irak künftig als Gesamtstaat überhaupt noch erhalten bleiben, wie es sich der chaldäische Patriarch Louis Raphael langfristig für das Wohlergehen seines Landes gewünscht hatte? "Die Kurden haben schon eine gewisse Autonomie, die Schiiten beinahe auch. Nun werden die Sunniten folgen. Der Irak wird geteilt werden. Wir erleben gerade die dunkelste Stunde des Irak", sagte er am Rande der Resignation. "Die Situation ist bei uns äußerst heikel geworden. Die IS-Truppen haben neben Mossul schon fast den gesamten Westen des Landes besetzt. Doch die Wellen des Hasses steigen weiter und bedrohen uns Tag für Tag mehr. Vergesst uns Christen und unser Land nicht!"

Die Autorin ist Pressesprecherin von CSI-Österreich (Christian Solidarity International)

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