Die Ideologie ist tot, die Religion hat überlebt"

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Der Politologe michael ley leitet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Politik, Religion und Anthropologie an der Universität Innsbruck. Ein Gespräch über Politische Religion, (islamischen) Fundamentalismus und Religion in heutigen Gesellschaften.

Die Furche: Das Konzept der "Politischen Religion" ist schon vor dem 2. Weltkrieg entwickelt worden, dann hat es aber kaum eine Rolle gespielt. Erst in den letzten Jahren wurde es wieder modern.

Michael Ley: Der Begriff stammt von Eric Voegelin (vgl. Seite 2), der 1938 noch in Wien in einem Buch Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus schon im Titel als "Politische Religion" bezeichnet. Nach 1945 hat man sehr wohl auch über Politische Religion gesprochen, das wurde aber durch die Frankfurter Schule verdrängt, die eine marxistische Faschismusanalyse geliefert hat: Da wollte man natürlich alles ökonomisch erklären. Seit 1989 kommt der Begriff der Politischen Religion wieder hervor: Man versucht zu zeigen, dass alle europäischen Totalitarismen säkularisierte Religionen, eben "Politische Religionen" sind.

Die Furche: Inwiefern sind die Großideologien des 20. Jahrhunderts - Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus - "Religionen"?

Ley: Der Terminus "Tausendjähriges Reich" etwa ist ja keine reine Ideologie, sondern die Vorstellung der Nationalsozialisten, eine neue Schöpfung, eine neue Menschheit zu schaffen: Da geht es nicht um Reformen, sondern um eine radikale Weltveränderung - im Grunde ganz wie im Buch der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament, das ja sagt: Wenn der Messias kommt, werden alle Feinde Gottes vernichtet. Die Nationalsozialisten, die modernen Gnostiker, wie ich sie gerne nenne, haben ein ähnliches Weltbild: Die Welt muss radikal gereinigt werden, und die Gegner - die Juden, die Kapitalisten - sind das notwendige Reinigungsopfer. Hier werden Transzendenz und Eschatologie verweltlicht und verzeitlicht, indem man sagt: Wir schaffen das Paradies jetzt und hier. Insofern ist der Nationalsozialismus, aber auch der Kommunismus mehr als eine politische Partei, sie sind "Religionsparteien", sie versprechen Erlösung - mit der notwendigen apokalyptischen Vernichtung: Es handelt sich hier um verweltlichte, säkulare Religion.

Die Furche: Zuletzt ist die Diskussion um die "Politische Religion" in die Terrorismusdebatte getragen worden. Autoren, die den Begriff verwenden, verweisen auf den christlichen Fundamentalismus, etwa bei Timothy McVeigh, der 1995 das Regierungsgebäude in Oklahoma in die Luft gesprengt hat (168 Tote) - und natürlich auf die El-Kaida-Terroristen in der islamischen Welt, die heute die Berichterstattung dominieren. Ist es legitim, das Konzept der Politischen Religion hier anzuwenden?

Ley: Ja. Man muss dabei aber die Vorgeschichte kennen: Der islamische Fundamentalismus entsteht als politische Ideologie Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gründung der Moslembruderschaften. Diese ersten religiösen Ideologien im Bereich des Islam argumentieren antikolonialistisch und entdecken den Islam als "Befreiungstheologie" mit der Vorstellung, dass die ganze Welt islamisiert werden könnte, dass also die Weltbefreiung durch den Islam zu erfolgen hätte. Das muss man wissen, um den heutigen Islamismus und auch den Terrorismus zu verstehen. Bei den Moslembruderschaften findet man eine den Nationalsozialisten vergleichbare Ideologie: Ablehnung der Moderne, es gibt einen Feind - bei den Nazis: die Juden; bei den Moslembruderschaften: die Nicht-Muslime, die Amerikaner, die Zionisten, die westliche Welt. Auf dieser Grundlage kann man beide Bewegungen sehr wohl vergleichen. Bei uns wurden diese politischen, gnostischen Bewegungen überwunden, während die islamische - insbesondere die arabische - Welt das nachvollzieht.

Die Furche: In der Literatur zu Terrorismus wird aber diesbezüglich nicht nur der Islam diskutiert, sondern auch das christlich-fundamentalistische Konglomerat, wie es etwa in den USA besteht.

Ley: Natürlich gibt es auch im Westen Fundamentalismus, der ebenfalls zunimmt, von dem letztlich ja auch George W. Bush profitiert. Im Westen sind fundamentalistische Bewegungen aber eine - nicht ungefährliche - Randerscheinung, man kann sie nur bedingt mit dem islamischen Fundamentalismus vergleichen.

Die Furche: Kommunismus, Nationalsozialismus, auch Faschismus sind in demokratischen Gesellschaften keine Gefahr mehr. Es gab hier Strategien, um die Gefahren Politischer Religion zu überwinden. Kann man daraus etwas für den Umgang mit dem Islamismus lernen?

Ley: So wie der Nationalsozialismus oder der Kommunismus keine Lösung für Probleme der Moderne war, so ist auch islamischer Fundamentalismus oder Terrorismus keine Lösung für die Probleme der islamischen Länder. Das sind evolutionäre Sackgassen mit schrecklichen Folgen. Letztlich wird die islamische Welt eine Modernisierung initiieren müssen: Sie muss sich nicht notwendigerweise verwestlichen, aber sie muss eine islamische Moderne entwickeln - wie es ansatzweise in der Türkei geschieht.

Die Furche: Aber auch in der Türkei ist der Islamismus erstarkt...

Ley: Modernisierung kann nicht gegen oder ohne Religion funktionieren: Auch die westlichen Gesellschaften haben sich erst modernisiert, als sich die christlichen Kirchen mit der Moderne verbündeten. Im katholischen Bereich gibt es ja erst mit dem 2. Vatikanischen Konzil die Akzeptanz des Parlamentarismus und der Demokratie. Erst da konnte sich die Moderne durchsetzen. Etwas Ähnliches muss auch in der Türkei passieren: Man kann Modernisierung, Demokratisierung nicht gegen die Religion erreichen. Das heißt, wenn nun die Religion in der Türkei eine größere Rolle spielt, dann in dem Sinne, dass man sie auffordert, sich an der Moderne zu beteiligen, sprich: den demokratischen Rechtsstaat zu akzeptieren, die Scharia abzuweisen: Nur in Zusammenarbeit mit gemäßigt islamischen Kräften, ist eine wirkliche Demokratisierung und Modernisierung möglich.

Die Furche: Ist das jetzt ein Argument für den EU-Beitritt der Türkei?

Ley: Natürlich sagen viele, sie sind gegen einen Türkei-Beitritt, weil sie nicht europäisch, nicht christlich sei. Ich denke, wir müssen vorsichtig sein und den ganzen Prozess noch beobachten; aber wenn wir überzeugt sind, dass die Türkei in die Richtung moderner Rechtsstaat geht, dann sollten wir das unterstützen und sie auch aufnehmen.

Die Furche: Sie sagen, neomarxistische Ansätze - explizit: Die Frankfurter Schule - hätten die Auseinandersetzung mit "Politischer Religion" jahrelang verhindert. Mittlerweile hat aber auch ein letzter großer Protagonist davon, Jürgen Habermas, die Religion in seine Überlegungen hineingenommen.

Ley: Dass Habermas überhaupt von Religion spricht, ist ein Zeichen, dass ein alter Marxist wie er zur Kenntnis nehmen muss: Die Ideologie hat nicht überlebt, die Utopie ist untergegangen - die Religion hat aber überlebt. Er bezieht das aber nicht wirklich in seine Analysen ein, dort hat Religion eine untergeordnete Funktion. Ich glaube nicht, dass Habermas verstanden hat, wie wichtig Religion gerade in der Moderne ist, dass die Moderne hoch religiös und eben nicht säkular war.

Die Furche: Was hat der 11. September 2001 für diese Diskussion bewirkt?

Ley: Nach dem 11. September musste auch der unaufgeklärteste Teil der westlichen Welt zur Kenntnis nehmen, dass wir von Politischen Religionen, von politischem Terrorismus bedroht sind, und dass wir uns zugleich um eine neue Weltordnung kümmern müssen. Der 11. September sagt, wir können nicht so tun, als würde uns das nichts angehen. Wir sind mitten im Zentrum des Terrorismus - nicht nur die USA, nicht nur Madrid.

Die Furche: Zur Zeit präsentiert sich vor allem der Islam als "offensive" Religion. Wer den Zustand des westlichen Christentums dagegen anschaut, findet Rückzug, Defensive.

Ley: Ich sehe diese "Entchristlichung" der westlichen Gesellschaft nicht unbedingt positiv. Sie ist sicher ein Ausdruck entwickelter postmoderner Gesellschaften. Auf der anderen Seite sehen wir aber nicht nur, dass immer mehr aus den Kirchen austreten, sondern seit Mitte der 80er Jahre ist der Säkularisierungsprozess umgedreht - in dem Sinn, dass sich immer mehr Leute der Religion, den Religionen wieder zuwenden - das können Sekten, Esoterik sein, aber: Das Interesse an der Religion in unseren Gesellschaften steigt, auch wenn sich die Leute nicht notwendigerweise wieder den Kirchen zuwenden.

Die Furche: Ihre These lautet also: Die Moderne brauchte die Religion, die Religion muss aber im Einklang mit der Aufklärung stehen?

Ley: Ja. Religion kann zu Demokratisierung und Modernisierung viel beitragen, indem sie mäßigend aufklärerisch wirkt und sich an diesem Projekt beteiligt. Ein Problem ist, je mehr sich die Kirchen liberalisieren, umso weniger werden sie attraktiv. Das hat die liberale Theologie nicht gesehen, dass also, je liberaler, je offener das Christentum wird, es umso unattraktiver anscheinend für viele Menschen wird.

Die Furche: Aber wohin führt das?

Ley: Diesen Prozess kann man nicht aufhalten. Wir brauchen aber einen Ersatz für die traditionellen Religionen, so etwas wie eine Zivilreligion. Menschen brauchen transzendente, spirituelle Werte: Es wäre auch eine Aufgabe der Kirchen, am Aufbau einer europäischen Zivilreligion mitzuarbeiten, von der die Kirchen und die religiösen Gruppen einen Teil darstellen könnten.

Die Furche: Zivilreligion - der "religöse" Anteil einer Kultur, zu der jene identitätsstiftenden Elemente gezählt werden, die auch für eine demokratisches Gemeinwesen nötig sind: Der klassische Fall der Zivilreligion ist die USGesellschaft, wo religiöse Versatzstücke und Symbole aus unterschiedlichsten Ecken eine nationale Akzeptanz finden. Europa sollte also so etwas entwickeln?

Ley: Ja! In den USA hat sich eine Zivilreligion sehr früh entwickelt, weil man keine dominierende Religion haben wollte, die dann auch noch Staatsreligion wurde. Sondern Staat und Kirchen blieben klar getrennt. Damit es aber keine religiösen Bürgerkrieg gibt, bedurfte es einer Zivilreligion - und diese funktioniert bis heute, ja ist der wichtigste Hintergrund für die amerikanische Demokratie.

Die Furche: Was ist der Unterschied zwischen der Politischen Religion und der Zivilreligion?

Ley: Eine politische Religion ist eine totalitäre Ideologie, während die Zivilreligion ein notwendiges Pendant zur Demokratie darstellt. Dort, wo es keine Zivilreligion gibt, ist die Gefahr, dass eine Politische Religion entsteht, relativ groß. Zivilreligionen sind der Schutz und der Garant gegen Politische Religion, gegen Totalitarismus.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

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