Kristina Kovács - © Foto: Ralf Leonhard

Ungarn: Die Illusion des Wandels

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Wohin treibt Ungarn? Kriszta Kovács, langjährige Mitarbeiterin am ungarischen Verfassungsgericht und Forscherin im „WZB Center Berlin“, über rechtsstaatliche Tabubrüche und das System Orbán.

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Wohin treibt Ungarn? Kriszta Kovács, langjährige Mitarbeiterin am ungarischen Verfassungsgericht und Forscherin im „WZB Center Berlin“, über rechtsstaatliche Tabubrüche und das System Orbán.

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Der rechtskonservativen Regierung in Ungarn wird seit Jahren die Untergrabung von EU-Grundwerten vorgeworfen. Gegen das Land laufen eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren, die die Regierung Orbán als „falsche Anschuldigungen“ bezeichnet. Im Rahmen eines deutsch-ungarischen Expertentreffens in Berlin äußerte sich die Menschenrechtlerin Kriszta Kovács zur Ohnmacht der Opposition in ihrer Heimat und warum freie Wahlen allein auch nicht genügen.

DIE FURCHE: Stichwort Rechtsstaatlichkeit. Welche Verfehlungen werden Ungarn vorgehalten?
Kriszta Kovács:
Beim Hearing in Brüssel (Dezember 2019; Anm. d. Red.) gab es drei Themen: Erstens die Attacken gegen die Justiz, zweitens die Meinungs- und Pressefreiheit und drittens die akademische Freiheit.

DIE FURCHE: Wie lauten die Vorwürfe konkret?
Kovács:
Beim Verfassungsgerichtshof hat die regierende Mehrheit die volle Kontrolle über die Auswahl der Richter. Der VfGH ist heute kein Kontrollorgan mehr, sondern ein Partner der Regierung. Weiters ist das Öffentlich- Rechtliche heute ein Propagandasprachrohr der Regierung. Vergangenen Herbst wurden per Gesetz 476 Medien unter einen Organismus namens KESMA gezwungen. Die Zentraleuropäische Presse- und Medienstiftung (KESMA) entscheidet in der Praxis über Regierungsanzeigen. Für Journalisten gibt es Tabus. Reporter des öffentlich- rechtlichen Fernsehens dürfen nicht auf Kommentare zu Ungarn von NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch Bezug nehmen. Dann ist da die Central European University (CEU), die rausgeworfen wurde und jetzt überwiegend in Wien arbeitet. Darüber hinaus muss seit Anfang diesen Jahres jedes Buch, das in Ungarn mit öffentlichen Förderungen erscheinen soll, vorgelegt werden. Und jetzt hat die Regierung Einfluss auf die Auswahl der Theaterdirektoren.

DIE FURCHE: Ungarn ist das erste EU-Land, das von Freedom House vom Status „frei“ auf „teilweise frei“ herabgestuft wurde. Jüngst wurden auch die Spielregeln für die Oppositionsparteien verschärft. Worum geht es da?
Kovács:
Die Geschäftsordnung des Parlaments wurde geändert und die Rechte der Opposition wurden eingeschränkt. Damit wurden ihre Handlungsspielräume begrenzt und ihre Zersplitterung verfestigt. Zum Beispiel können fraktionslose Abgeordnete weder einer Fraktion beitreten noch eine gründen.

DIE FURCHE: Laut Regierung hält man sich an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs, etwa im Fall der frühpensionierten Richter, die wieder eingestellt werden mussten.
Kovács:
Das Urteil kam ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes und die erfahrenen Richter und Staatsanwälte – es geht um etwa 270 – waren bereits weg und durch loyale Juristen ersetzt worden. Einige sind nach dem Urteil zwar zurückgekehrt, bekamen aber ihre alten Posten nicht zurück. Seither sind mehr als 100 weitere Richter gegangen. Nicht, weil sie gesetzlich gezwungen worden wären, sondern wegen des politischen Drucks.

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