Die Kinder aus dem Elend holen

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Unvorstellbar ist die Not in Sibirien: Entwurzelung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus prägen den Alltag. Ein Missionar nahm den Kampf auf ...

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Unvorstellbar ist die Not in Sibirien: Entwurzelung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus prägen den Alltag. Ein Missionar nahm den Kampf auf ...

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dieFurche: Sie sind in der früheren kommunistischen Tschechoslowakei aufgewachsen, waren Missionar in Afrika und bauen seit 1993 eine christliche Jugendarbeit in Sibirien auf. Das klingt nicht nach einem ruhigen Leben.

Pater Josef Pravda: Nachdem ich zum Glauben gekommen und heimlich zum Priester geweiht worden war, verspürte ich den Wunsch, Missionar zu werden. Das hat Christus in mich hineingelegt, ich kann nichts dafür. Und die Entscheidung zur Nachfolge Christi innerhalb eines atheistischen Regimes ist ohnehin die Absage an jede Art von ruhigem Leben.

dieFurche: Wie sah Ihr persönlicher Glaubensweg aus?

Pravda: Ich stamme aus einem kleinen Dorf, nicht weit von Bratislava entfernt. Im Gegensatz zum Großteil der letzten Generation wurde ich zwar noch getauft, doch mein Alltagsleben verlief ohne Gott. Meine persönliche Bekehrung verdanke ich meinem Physiklehrer. Ich spürte, daß er kein oberflächlicher Mensch war. In persönlichen Gesprächen kreisten wir immer wieder um den christlichen Glauben. Es faszinierte mich, daß er meine Lebensfragen aus dem Glauben heraus beantworten konnte. Erst sehr viel später erfuhr ich, daß er ein Priester der Salesianer Don Boscos war. 1977 wurde ich selbst zum Priester geweiht und trat in den Orden der Salesianer ein. Die Weihe fand heimlich im Wald statt, niemand wußte davon. Ich hatte Mathematik und Physik studiert und arbeitete als Ingenieur. Doch in persönlichen Beziehungen und in der Nacht wirkte ich als Priester. Als diese Situation zu schwierig wurde, mußte ich fliehen und kam über das frühere Jugoslawien nach Rom. Dort konnte ich zwei Jahre lang meine theologischen Kenntnisse verbessern, dann riefen mich die Salesianer nach Zaire.

dieFurche: Wie kommt man von Zaire nach Sibirien?

Pravda: Als der Sowjetblock zerfiel und auch die osteuropäischen Satellitenstaaten frei wurden, konnte ich wieder zurück nach Bratislava. Freies christliches Leben nach 40 Jahren Untergrund war eine Sensation und natürlich eine gewaltige Herausforderung. Strukturell und organisatorisch haben wir fast bei Null begonnen, doch nun konnten endlich alle Priester und Laienmitarbeiter frei zu wirken beginnen. Es war eine ganz große Aufbruchstimmung, die bis heute angehalten hat. Wir sind einfach begeistert, daß wir ungehindert arbeiten dürfen. Wir mußten lernen, offiziell zu arbeiten, das ist immer noch ein Prozeß, aber wir haben so viele junge Mitarbeiter und zehn bis zwanzig Berufungen im Jahr. Von Anfang an war mir aber klar, daß mich meine Berufung nach Rußland führen sollte. Denn von dort ging der Kommunismus aus, und dort haben die Menschen auch am meisten gelitten. So war ich bereits nach zwei Jahren, 1993, in Sibirien, und wir begannen dort eine christliche Jugendarbeit im Sinne Don Boscos aufzubauen.

dieFurche: Für viele Menschen ist Sibirien ein Synonym für Verbannung, bittere Kälte und Schrecken jeder Art. Können Sie das bestätigen?

Pravda: Sibirien ist das Golgota der Welt. Die Zustände, die dort herrschen, sind für die meisten von uns wohl unvorstellbar. Denn Jahrhunderte lang war dieses Gebiet eine Art riesiges Gefängnis für alle Art von Verbrechern. Das ist es bis heute geblieben. Die Menschen wissen das. Für sie scheint es nur einen Ausweg zu geben - Alkohol. 90 Prozent der Männer und 40 bis 60 Prozent der Frauen sind Alkoholiker. Kriminalität, Verbrechen und Aggressivität gehören zur Tagesordnung. Wenn sie in der Nacht auf der Straße unterwegs sind, ist es das mindeste, daß jemand versucht, ihnen ihre Mütze vom Kopf zu ziehen und damit das Weite zu suchen. Denn bei Temperaturen von bis zu minus 50 Grad Celsius ist eine Kopfbedeckung lebensnotwendig, aber nicht jeder besitzt auch eine.

Dazu kommt die Entwurzelung der Menschen. In Yakutsk, wo wir zur Zeit ein Jugendzentrum aufbauen, sind die Hälfte der Bewohner Yakuten, die von jeher als Fischer und Jäger lebten. Das kommunistische Regime machte jedoch aus ihnen Beamte und zwängte sie in seelenlose Blockbauten. Das kann kein Volk psychisch verkraften, noch dazu kann Rußland seine Beamten jetzt natürlich nicht mehr bezahlen. Die Arbeitslosigkeit ist unbeschreiblich. Die andere Hälfte der Bewohner sind Verbannte und Verbrecher oder deren Nachkommen aus der früheren Sowjetunion. Viele sind erst in den letzten Jahren aus Lagern und Gefängnissen entlassen worden.

dieFurche: Was kann man in dieser Situation überhaupt tun?

Pravda: Bei Kindern und Jugendlichen können wir neu beginnen! Der Familienverband ist fast zur Gänze aufgelöst, viele Jugendliche sind auf der Straße, sie übernachten in Heizungsschächten und versuchen zu überleben. Es ist keine Seltenheit, daß zwölfjährige Kinder alkoholisiert in die Schule kommen. In unseren Jugendräumen lernen wir sie kennen, bauen Beziehungen auf und bieten ihnen sinnvolle Beschäftigungen. Wir haben Werkstätten, und bald können wir sogar einen Computerkurs anbieten, Jugendliche können eine Lehre beginnen und auf einen Beruf vorbereitet werden. Wir haben auch einige kleine Räume, wo wir Jugendliche von der Straße aufnehmen können. So spüren sie: Vielleicht haben wir doch noch Zukunft, vielleicht gibt es doch ein Licht in der Dunkelheit. Durch diese positiven Beziehungen öffnen sie sich automatisch für den Glauben. Wir bieten Religionsunterricht an und geben Katechese, unsere Kapelle ist ein beliebtes Zentrum.

dieFurche: Viele Österreicher unterstützen das Projekt "Hoffnung für Sibirien". Kommt diese Hilfe an?

Pravda: Diese Hilfe aus Österreich ist die Grundlage unserer Arbeit! Denn ohne sie hätte vieles überhaupt nicht geschehen können. Unser Jugendzentrum in Yakutsk ist nur durch diese Unterstützung entstanden. Es ist für mich ein einziges Wunder, daß so viele Menschen bei unserem Dienst helfen möchten. Es ist für mich die Bestätigung, daß die Kirche keine Organisation ist, sondern ein lebendiger Leib, in dem der Heilige Geist wirkt. Ich möchte allen Unterstützern von ganzem Herzen danken!

dieFurche: Können Sie in Yakutsk frei wirken oder werden Sie von Staat oder orthodoxer Kirche behindert? Hat sich das neue russische Religionsgesetz auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Pravda: Die katholische Kirche ist seit mehr als 200 Jahren in Sibirien. Diese Tradition wurde lediglich durch den Kommunismus unterbrochen. Fast in jedem sibirischen Städtchen findet man eine katholische Kirche oder Kapelle - meistens leider verfallen oder zweckentfremdet. Sogar auf der östlichsten Insel Sibiriens, auf Sachalin, gab es zwei katholische Priester. Wir stehen hier vor einem Meer an Herausforderungen - mit Streit sollten wir nicht unsere Zeit verschwenden. Es gibt zwar einige "Ultra-Orthodoxe", die schlecht über uns reden, aber das ist eine verschwindende Minderheit. Mit den Orthodoxen kommen wir gut aus, auch für sie ist diese Zeit extrem herausfordernd, und der Bürgermeister ist begeistert von unserer Arbeit, er hat das Jugendzentrum mehrfach besucht.

dieFurche: Vor welcher nächsten konkreten Aufgabe stehen Sie?

Pravda: Nach dem Wunder der finanziellen Unterstützung ist für mich das zweite Wunder, daß bei uns die Kirche nicht bei den Klerikern beginnt, sondern bei den Laien. Ohne Laienmitarbeiter wären wir hier hilflos überfordert. Ich lade daher alle engagierten Christen ein, uns vor Ort zu helfen, auch wenn es nur für einige Wochen oder Monate sein kann. Wer eine Erfahrung des Glaubens machen möchte, der soll kommen. Unser nächste Ziel ist ein kleines Heim, damit Kinder und Jugendliche von der Straße auch über längere Zeit bei uns leben können.

Das Gespräch führte Wolfgang Sutter.

Zur Person Ein geheim geweihter Priester als Missionar in Sibirien Pater Josef Pravda, in der kommunistischen Ära in der Slowakei geboren, ist Mitglied des Ordens der Salesianer Don Boscos. Er hat sich in seinem derzeitigen Einsatzgebiet Sibirien der so notwendigen Jugendarbeit verschrieben. Seine größten Widersacher sind Alkoholismus, Kriminalität und die Entwurzelung. Denn Sibirien war nicht nur Verbannungsort für Tausende religiös und politisch Andersdenkende, sondern ebenso Endstation für Hunderttausende Gewaltverbrecher.

Für unsere Leser wird folgendes interessant sein: "Kirche in Not - Ostpriesterhilfe" unterstützte die Arbeit von P. Pravda mit Mitteln, die im Dezember 1997 für das Projekt "Hoffnung für Sibirien" gesammelt wurden. Furche-Leser leisteten dazu einen Beitrag von insgesamt 46.557 Schilling. Für jene, die die Arbeit von P. Pravda für die Jugend Sibiriens (weiter) unterstützen möchten, sei seine Kontonummer angeführt: 763 10 87, PSK, Kennwort "Hoffnung für Sibirien".

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