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Die Kinderstube der Politik

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Die Gemeinden bemühen sich seit Jahren darum, einen weißen Fleck, ein unterentwickeltes Gebiet unserer Bundesverfassung, mit neuem Leben zu erfüllen. Artikel 120 „gewährleistet“ den Gemeinden einen Wirkungskreis in erster Instanz. Inhalt und Form dieses Wirkungsbereiches sind aber noch vollkommen offengelassen — und das seit nunmehr vierzig Jahren.

Im übrigen bedeutet dies nur eine Fortsetzung des Leidensweges der Gemeinden. Nach der feierlichen Erklärung in Artikel I des provisorischen Gemeindegesetzes von 1849 („Grundlage des freien Staates ist die freie Gemeinde“) gab es im Verlauf der letzten 110 Jahre mehr Rückschläge als Fortschritte auf diesem Gebiet.

Das besondere Bundesverfassungsgesetz, das der Artikel 120 der Verfassung in Aussicht stellt, soll also im gegenwärtigen Niemandsland die Grenzen zwischen Bundes- und Länderverwaltung und Gemeindeselbstverwaltung klarstellen. Der Entwurf dieser Gemeindeverfassungsnovelle sieht unter anderem Angaben über die Stellung der Gemeinden, eine Zusammenstellung ihrer behördlichen Aufgaben, die Organe der Gemeinden, die Art der Aufsicht durch die Länder und anderes vor. Über Einzelheiten und verschiedene Formulierungen wird noch gefeilscht, im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen aber — die im Augenblick vor allem zwischen den Gemeinden und Bundesländern geführt wird — steht tatsächlich eine Grundsatzfrage: Sind die Gemeinden nur territoriale Gliederungen der Länder oder steht die Gemeindeselbstverwaltung organisch an der untersten Stufe unseres demokratischen Systems, unseres bundesstaatlichen Aufbaues? Die Gemeinde ragt nicht nur aus der Reihe anderer Verwaltungseinheiten durch ihre örtliche Volksvertretung, ihre Gebietshoheit und die Allseitigkeit ihres Wirkungskreises hervor, sie ist gleichzeitig die unterste und volksnaheste politische Einheit in dem gebictskörperschaft-lich strukturierten Aufbau unseres Staates. Gewiß, der historische föderalistische Staatsbegriff bezieht sich nur auf das Verhältnis von Bund und Ländern, und der Vorstoß der Städte und Gemeinden, die Gemeinden in einem eigenen Hauptstück der Bundesverfassung, neben Bund und Ländern (und nicht nur innerhalb des vierten Hauptstücks, der den Ländern gewidmet ist), zu behandeln, würde eine Akzentverschiebung bedeuten.

Warum jedoch ein solcher Bruch mit der Tradition „untragbar“ sei, ist nicht ganz verständlich. Wer den staatlichen Aufbau als von unten nach oben geschichtet betrachtet, ihn also natürlich und den Prinzipien der Subsidiarität entsprechend aufgebaut sieht — und nicht nur ein Anhänger einer auch im starrsten Zentralismus notwendigen Dekonzentration ist, kann an der großen Bedeutung, aber auch an der klaren Rangstellung der Gemeinden nicht vorübergehen. So betrachtet würde auch eine Neueinstufung der Rangordnung der Gemeinden tatsächlich auch die Stellung der Länder festigen, die ja heute auch nur allzu gern als politische Handlanger und Erfüllungsgehilfen des Bundes angesehen werden, deren übertragener Wirkungskreis wächst, deren Schwerpunkt keineswegs mehr in der eigenen Gesetzgebung, sondern in der Verwaltung liegt.

Die Bedenken der Bundesländer, daß die Befugnis zur Regelung der Gemeindeangelegenheiten, eine der wenigen von Bedeutung, die bei der laufenden Schmälerung ihrer Rechte noch verblieben ist, weiter eingeschränkt würde, bestehen irgendwie zu Recht. Auch hier aber dürfte man die Gefahr der verschiedenen Fronten, denen die Länder tatsächlich ausgesetzt sind, nicht falsch einschätzen. Die latente und fast ununterbrochen aktuelle Beschneidung der Länderrechte erfolgt praktisch nur vom Bund her. Die Verschiebung der Länderzuständigkeit bei der Neuregelung der Gemeindeangelegenheiten wäre vorübergehend zweifellos eine Einbuße der Länder, eine Neugliederung von unten nach oben aber ist den Interessen der Länder keineswegs diametral entgegengesetzt; vielleicht könnte sie überhaupt der Startschuß fw eine neue, vernünftige Kompetenzaufteilung innerhalb unseres Bundesstaates bilden, die wirklich dringend nötig wäre und bei der die Gemeinden einiges, die Länder viel gewinnen könnten.

Mit den grundsätzlichen Einwendungen der Länder schafft man allerdings auch kein günstiges psychologisches Klima für die eigenen Sachen der Länder. Die Tschechen waren im alten Österreich dafür bekannt, daß sie in Wien fanatische Anhänger des föderalistischen Prinzips, in Prag selbst aber recht wackere Zentralisten waren. Ähnliches sagt man heute noch den Bayern nach. Es sollte doch nicht so sein, daß die Länder nach oben, dem Bund gegenüber, energisch (wenn auch nicht immer erfolgreich) die Wahrung ihrer Rechte innerhalb unseres Bundesstaates verteidigen, in den Gemeinden aber ausschließlich eine territoriale Gliederung der Länder, in ihren Beziehungen zu den Gemeinden ein „obrigkeitliches Machtverhältnis“ zu sehen.

Die Tatsache, daß den Gemeinden ein Selbstverwaltungsrecht zusteht, daß sie also ihre Angelegenheiten selbst erledigen können, daß ihnen darüber hinaus in einem bestimmten Ausmaß auch ein Normensetzungsrecht, also eine Autonomie zuerkannt ist, hebt sie doch deutlich über den Rahmen gewöhnlicher territorialer Gliederungen der Länder hinaus.

Gewiß muß auch die den Gemeinden von Natur aus gesetzte Grenze gesehen werden, und in Absprachen kann ja auch unschwer festgestellt werden, was über die Fähigkeiten einer durchschnittlichen Gemeindeverwaltung (wie etwa Fragen der Baupolizei in kleineren Gemeinden!) hinausgeht; aber auch hier sind Regelungen, wie etwa der Finanzausgleich mustergültig, der einerseits die Finanzkraft der Gemeinden stärkte, gleichzeitig aber eine Verwaltungsvereinfachung, vor allem für die Gemeinden, aber auch für Länder, mit sich brachte.

Mißbräuche, die natürlich auch bei der Stärkung der Stellung der Gemeinden nicht zu vermeiden sein werden, können durch die im Entwurf verhältnismäßig ausführlich behandelten Fragen des Aufsichtsrechts wirkungsvoll beseitigt werden.

Man betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Bedeutung der Gemeinden für den Gesamtstaat, für die Demokratie, die staatsbürgerliche Erziehung; man nennt die Gemeindestube „Kinderstube der Politik“, andere bezeichneten die Gemeinderäte als „Pflichtschullehrer der Demokratie“. Man sollte auch jetzt nicht allzu große Barrieren aufrichten, wenn die Gemeinden nun ihre politischen Schecks eingelöst wissen wollen. Eine richtige Verteilung der politischen Gewichte in unserer Demokratie wird ihr kaum zum Schaden gereichen. Eine Neufestsetzung der Stellung der Gemeinden würde übrigens auch nur jene rechtliche Situation schaffen, die die Gemeinden im Bewußtsein der Bevölkerung längst einnehmen.

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