"Die Lage könnte katastrophal werden“

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Der tunesische Politologe Omeyya Seddik ist Teil der "Fédération des Tunisiens pour une Citoyenneté des deux Rives (FTCR). Ein Gespräch über die Zukunft der arabischen Revolte.

Omeyya Seddik lebte mehr als 20 Jahre in Frankreich im Exil. Als die Revolution in Tunesien ausbrach, reiste er in seine Heimat zurück und betätigt sich nun in einer demokratischen Partei.

DIE FURCHE: Wie ist die Lage in Tunesien rund drei Monate nach Ende der Revolution?

Omeyya Seddik: Schwierig, da man immer noch damit beschäftigt ist, Institutionen zu schaffen, die die Errungenschaften der Revolution schützen. Viele Elemente des diktatorischen Regimes sind noch aktiv. Ben Alis Diktatur basierte auf einem sehr großen Sicherheitsapparat, der noch immer in Funktion ist. Er wurde zwar geteilt, jedoch noch nicht neu strukturiert. Doch die Dynamik in der Bevölkerung und die Bemühungen, Institutionen zu schaffen, die eine Rückkehr zur Diktatur unmöglich machen, sind groß.

DIE FURCHE: Wie sieht das konkret aus?

Seddik: Es gibt eine provisorische Regierung. Sie besteht aus Technokraten und verwaltet das Land, auch auf ökonomischer Ebene. Sie sorgt also dafür, dass kein Chaos ausbricht. Diese Regierung wird sehr genau beobachtet, sowohl von der Bevölkerung als auch vom "Rat für die Verteidigung der Ziele der Revolution“. In diesem Rat sitzen Vertreter der sozialen Bewegungen, der Gewerkschaften und der ehemaligen Oppositionsparteien. All das spielt sich in einem sehr schwierigen sozialen und politischen Umfeld ab. Denn die wirtschaftliche Lage könnte katastrophal werden. Tunesien ist ein Land, das nicht über sehr viele natürliche Ressourcen verfügt und wirtschaftlich sehr stark vom Ausland abhängig ist, vor allem von Europa.

DIE FURCHE: Viele fragen sich, warum jetzt, wo nach außen hin die Revolution so gut wie vorbei ist, die Tunesier fliehen?

Seddik: Da spielt die oben genannte wirtschaftliche Lage eine Rolle. Wir waren in den Gegenden, von denen die Leute nun geflohen sind. Die Leute waren froh über die Revolution, aber als es vorbei war, stand das wirtschaftliche Überleben im Vordergrund. Die Familien sagten zu den Jugendlichen: Schön und gut, dass ihr euch aufgelehnt habt, aber wie sollen wir jetzt essen, wovon sollen wir leben? Das Weggehen wurde als eine Fortsetzung der Revolution angesehen. Im Februar war ich auf Lampedusa. Die Leute, die ich dort traf, waren teilweise sehr jung, viele hatten an der Revolution teilgenommen und erzählten, dass sie nun zwei bis drei Jahre irgendwo arbeiten wollen und dann mit einer anderen wirtschaftlichen Perspektive in das neue Tunesien zurück.

DIE FURCHE: Wollen sie so also in gewisser Weise der Revolution helfen?

Seddik: Ja. Es ist ihnen klar, dass die ersten Jahre sehr schwierig sein werden. Deswegen gehen sie weg, um sich eine Möglichkeit aufzubauen, Geld zu verdienen, der Familie zu helfen.

DIE FURCHE: Fehlen denn die jungen Leute nicht beim Aufbau des neuen Tunesien?

Seddik: Es ist zu bedenken, dass im Gegensatz zu Europa 70 Prozent der Bevölkerung jünger als 29 Jahre alt ist, in Europa ist das genau umgekehrt. Gleichzeitig gibt es einen Arbeitskräftemangel in Europa und diese Leute finden auch Arbeit. Die Tatsache, dass Leute weggehen, heißt nicht, dass sie fliehen, es heißt, dass sie sich ein Leben aufbauen, das es ihnen erlaubt, zurückzukehren, zu helfen.

DIE FURCHE: Zurück zur wirtschaftlichen Situation. In letzter Zeit wird viel gestreikt in Tunesien, was will man damit erreichen?

Seddik: Viele protestieren so gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen, was sie unter Ben Ali nicht konnten. Denn für viele Menschen würde die demokratische Revolution unbedeutend sein, wenn sich dadurch die Lebensumstände nicht verbessern würden. Das Problem ist die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage. Also gibt es in den letzten Wochen vermehrt Stimmen, die sagen, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Streikaktionen, man sollte damit warten.

DIE FURCHE: Am 5.April haben Tunesien und Italien ein Abkommen zur Regulierung der irregulären Migration abgeschlossen. Wie beurteilen Sie dieses Abkommen?

Seddik: Das ist sehr komplex. Zu Beginn meinten Berlusconi, Innenminister Maroni und Außenminister Frattini, dass sie das Ganze wie zu Zeiten von Ben Ali regeln können. D. h. auf nahezu neokoloniale Weise, durch Geld und Drohungen. Das war nicht möglich, denn, wie ich vorhin erwähnte, ist die Regierung schwach, nicht vom Volk gewählt, und so war möglich, was zuvor, zu den Zeiten von Ben Ali, nicht möglich war: eine öffentliche Kampagne, damit die Regierung die Bedingungen der Italiener nicht akzeptiert. Anfangs war die italienische Regierung also ziemlich überrascht, als ihr Anliegen, massenhaft Tunesier abzuschieben, abgelehnt wurde.

DIE FURCHE: Wissen Sie, wie viele schon abgeschoben wurden?

Seddik: Nein, es gibt keine exakten Kriterien. Auf jeden Fall wissen wir, dass die Abgeschobenen nach dem 5. April in Italien angekommen sind und ihre jeweiligen Gründe nicht genau geprüft werden.

DIE FURCHE: Wie wird Europa derzeit wahrgenommen, angesichts der Tatsache, dass man die neuen demokratischen Bewegungen nicht wirklich bestärkt?

Seddik: Die Tunesier sind der Ansicht, dass Europa seit jeher ein starker Rückhalt für unsere Diktaturen war, Ben Ali, Gaddafi und die anderen. Sowohl Italien als auch Frankreich waren bis zum letzten Moment die wichtigsten Wirtschaftspartner dieser Regimes, und nun dachten wir, dass sich die Dinge ändern würden. Stattdessen sehen wir - trotz anders lautender Bekenntnisse - dass Europa alles tut, die weitere demokratische Entwicklung zu verhindern.

DIE FURCHE: Was könnte denn Europa an Positivem tun, um den demokratischen Prozess zu unterstützen?

Seddik: Erst einmal soll allen, die ankommen, ein humanitärer Aufnahmestatus gegeben werden, gemäß einer EU-Direktive aus dem Jahr 2001. Demnach sollen die Leute in Europa reisen können und arbeiten. Darüber hinaus finden wir, dass es an der Zeit ist, die Beziehungen zwischen Europa und Tunesien, die bislang vollkommen unausgeglichen waren, neu zu definieren. Denn wir meinen, dass es auch für Europa von Interesse ist, ausgewogenere politische und wirtschaftliche Beziehungen mit den Nachbarn südlich des Mittelmeers zu haben.

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