Die Lüge vom Neuen, Besseren, Billigeren

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Hinter dem vielstrapazierten Innovationsbegriff steckt allzu oft eine gehörige Portion Ideologie. Um den Begriff fruchtbar zu machen für nötige Veränderungen, muss man ihn vor Missbrauch schützen, meint Sozialexperte Martin Schenk von der Diakonie Österreich.

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Hinter dem vielstrapazierten Innovationsbegriff steckt allzu oft eine gehörige Portion Ideologie. Um den Begriff fruchtbar zu machen für nötige Veränderungen, muss man ihn vor Missbrauch schützen, meint Sozialexperte Martin Schenk von der Diakonie Österreich.

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Alte Menschen pflegen, Flüchtlinge betreuen oder Kinder unterrichten: "soziale Innovation" ist mittlerweile unabdingbar - zumindest am Etikett. Liest man die Begründungen für Sozialpreise, vertieft man sich in die Managementliteratur, glaubt man den Karriereseiten in den Zeitungen, kommt man zum vermeintlichen Schluss: Das Alte ist schlecht, das Neue ist gut. Natürlich braucht es gute Ideen und Mut zur Veränderung. Aber ist das entscheidende Kriterium, dass etwas neu ist?

Was unter der Fahne der "Innovation" segelt, bietet bei näherer Betrachtung oft bloß peppig aufgemascherltes Altbekanntes. Da schießen die Marketing- und Vernebelungsmaschinen aus dem Boden. Man sollte nicht vergessen, dass viele Neuerungen erst durch das Zurückschauen möglich geworden sind. Die Vorsilbe "Re" leitete das Neue ein: Re-volution, Re-form, Re-naissance und Re-formation. Gerade im Sozialbereich geht es immer um Entwicklung und Wiederentdeckung. So ist etwa der hilfreiche Ansatz der Gemeinwesenarbeit samt Sozialraumorientierung gerade in aller Munde, ein Konzept aus den 1930er-Jahren in Chicago.

Die Unschärfe der Worthülse "Innovation" erlaubt, sie mit allem zu befüllen und für sich zu vereinnahmen. Erst mit der Finanzkrise waren die sozialen Verwerfungen in Europa Wegbereiter für den Höhenflug des Konzeptes. Die Idee sozial zu sein, ohne Verteilungs- und Machtfragen zu stellen, ohne Kürzungen bei den Einkommensschwächsten stoppen zu müssen, ohne wachsende soziale Ungleichheiten in Frage zu stellen - all das machte das Konzept attraktiv. Die "soziale Innovation" schaffte so den Einzug in den politischen Mainstream, um als Lösung für alle anstehenden Probleme herzuhalten. Die Vagheit und Unbestimmtheit des Begriffs ermöglichte gleichzeitig mit sozialer Tarnkappe in Dienstleistungsbereiche wie Pflege oder Sozialarbeit vorzudringen, in denen Profit und Kommerzialisierung bislang - mit guten Gründen - nicht Platz gegriffen hat. Die trügerische Zauberformel lautet: Es soll mehr mit weniger gemacht werden. Damit ist auch klar gesagt, dass nach billigeren Lösungen gesucht wird, oder genauer: nach weniger Mitteln solidarischer Finanzierung, nach weniger "res publica" basierend auf sozialen Rechten.

Krisen als Neuigkeitsmankos?

Im Neuigkeitswahn werden Gegenwartskrisen nämlich niemals aus begangenen Irrtümern oder aus Fehlentwicklungen erklärt. Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschließlich Resultate eines Neuigkeitsmankos. Das ist eine besinnungslose Ideologie, eine autoritäre Versuchung, die sagt: Schluss mit der Diskussion, Schluss mit Fragen. Wir denken nicht, wir tun. "Das Neue will keine Alternative, keine Möglichkeit, sondern eine alles ausschließende Notwendigkeit sein", analysiert der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Es "kennt keine Bedenkzeiten, kein Innehalten, kein Abwägen, keine Muße. Das Neue erscheint deshalb auch mit Vorliebe in der ideologischen Gestalt eines Sachzwangs, dem man sich nur um den Preis selbstverschuldeten Zurückbleibens widersetzen könnte."

Ein Wiesel saugt ein Ei so geschickt aus, dass zwar die Schale unversehrt scheint, das Ei aber innen leer ist. Von außen sieht man es nicht. "Wieselworte" saugen die Bedeutung aus den Sätzen, wie Wiesel Eier aussaugen - nur die leere Schale bleibt, scheinbar intakt, zurück. So ist es auch mit den um sich greifenden Begriffen des "Social Business" und der "Social Entrepreneurs". Die Definition dafür ist so breit, dass alles darin Platz hat - und gleichzeitig nichts. Auch dem Militär verdanken wir Internet oder manches aus der Lasertechnologie für Krankenbehandlung. Gehört die Armee jetzt zum Sozialbereich? Dient die Rede von sozialer Innovation und den Social Entrepreneurs in Wirklichkeit der Vermarktlichung des Sozialsektors? Sollen in Zeiten der Austeritätspolitik mit Finanzkapital soziale Dienstleistungen kommerzialisiert werden?

Die Wirkung dieser Strategie ist jedenfalls: Ausgesaugt wird der Non-Profit Sektor und das Bürger-Engagement. Der Sozialwissenschafter Marcel Fink berichtet über ein Treffen zur Sozialpolitik auf europäischer Ebene. Ein Sozialexperte aus Irland berichtet von der Einführung einer Mindestpension in seinem Land, die die Altersarmut um viele Prozent senkte. Rückfrage aus der Kommission: Hätten Sie auch was Innovatives?

Um den Innovationsbegriff zu retten, muss man ihn vor der Beliebigkeit und vor dem Missbrauch schützen. Die relevanten Fragen lauten: Für wen sind soziale Innovationen gut? Und welches Ziel wird dabei verfolgt? Probleme neu zu durchdenken, Lösungen mittels neuer oder alter sozialer Praktiken zu finden - und dabei die Frage zu stellen, wohin wir mit den Lösungen eigentlich wollen - das ist entscheidend. Es geht um Zielfragen und Zielkonflikte, sie offenzulegen und nicht zu verschleiern. Das Neue allein ist jedenfalls nicht genug. Für Obdachlosenbetreuung, Flüchtlingsarbeit, Pflege oder Bildung sollte unbedingt gelten: Es geht um das Bessere.

Neu! Besser! Billiger!

Soziale Innovation als leeres Versprechen?

Meichenitsch, Neumayr, Schenk (Hg.)

Mandelbaum 2016 226 S., € 12,80

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