Die Medien im Angesicht der Katastrophe

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Teil II der Kooperation zwischen FURCHE und dem Medienlehrgang der Uni Graz zum Ukraine-Konflikt: Die Schuldfrage für den Absturz der MH17 steht noch aus. Aber die alternativen Medien haben die Frage längst - und sehr unterschiedlich - beantwortet.

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Teil II der Kooperation zwischen FURCHE und dem Medienlehrgang der Uni Graz zum Ukraine-Konflikt: Die Schuldfrage für den Absturz der MH17 steht noch aus. Aber die alternativen Medien haben die Frage längst - und sehr unterschiedlich - beantwortet.

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Als am 17. Juli des Vorjahres eine Maschine der Malaysia-Airlines über der Ostukraine abstürzte und 298 Tote zu beklagen waren, folgten widersprüchliche Presse-Meldungen: Absturz oder Abschuss? Und wenn Abschuss: wer hat geschossen? Im Streit um die Schuldfrage gab es einen Sieger: die alternativen Informationskanäle. Auf den Spuren der Mediennutzung nach der Katastrophe.

"Die ukrainischen Medien waren objektiv", ist sich Marjana Matys sicher. Die 29-jährige Lehrerin und Juristin lebt in Lwiw (Lemberg) in der Westukraine. Dort hat sie die Meldungen über den Absturz der MH17 verfolgt. Sehr rasch hat sich der Fokus der ukrainischen Medienberichterstattung auf die Schuldfrage gerichtet. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (Sluzhba Bezpeky Ukrayiny) habe den Medien Beweismaterial zukommen lassen, erklärt Matys. Dabei handelte es sich um Aufnahmen von Gesprächen zwischen Separatisten: "Sie gaben zu, dass sie gerade die Rakete abgefeuert haben, weil sie dachten, es hätte sich um ein ukrainisches Flugzeug gehandelt". Und Matys weiter: "Später, in einem Social Media Kanal, hat ein Separatistenführer sehr stolz verkündet, dass er gerade ein ukrainisches Flugzeug abgeschossen hat. Aber als sich herausgestellt hat, dass es ein ausländisches Flugzeug war, hat er das Posting gelöscht." Zweifel an dieser Darstellung hat sie nicht.

Die junge Ukrainerin glaubt auch, dass der Westen nun einen anderen Blick auf die Ukraine-Krise hat: "Dieser Absturz hat endlich die Aufmerksamkeit Europas und der USA auf die russische Invasion gelenkt. Und die anderen Länder haben begonnen, Maßnahmen zu ergreifen, Sanktionen einzuleiten." Doch sie ist überzeugt, dass das Interesse der Welt für die Ukraine zeitlich begrenzt war: "Jedes Land denkt an sich selbst und die Welt war mehr über Paris (Charlie-Hebdo-Attentat, Anm.) betroffen als darüber, dass im Krieg in der Ukraine jeden Tag hunderte Menschen sterben."

Vlad Buchynskyy stammt aus Odessa, lebt in Graz und möchte sich einen breiten medialen Überblick über den Konflikt in der Ostukraine verschaffen: "Ich versuche, beide Seiten zu beobachten und zu verstehen". Neben ORF und deutschen Sendern schaut der 26-jährige Geologe "ein- bis zweimal pro Woche ukrainische Nachrichten auf TSN, die als aggressiv pro-ukrainisch gelten und in Russland sogar verboten sind". Außerdem lese er ukrainische Online-Zeitungen (Korrespondent, Segodnya) und zwei russische Online-Zeitungen (Echo Moskvy, Gazeta.ru). "Die Zeitungen sind absichtlich von pro-russisch bis ganz pro-ukrainisch orientiert, sodass ich beide Ansichten zur Krise mitbekomme", so Buchynskyy.

Westlichen Medien wird eine gewisse Distanziertheit attestiert: Die Nachrichten über den Absturz seien "vorsichtiger" gewesen, meint Matys. In dieselbe Kerbe schlägt auch Buchynskyy, wenn er sagt, dass die westlichen Medien "etwas uninteressiert" gewesen seien, während ukrainische Medien "viele überzeugende Fakten" auf den Tisch gelegt hätten.

Der Konflikt ist die Stunde der alternativen Medien und sozialen Netzwerke, deren Unmittelbarkeit und ständige Verfügbarkeit oft mehr Vertrauen geschenkt wird als den herkömmlichen Medien. "Ganz, ganz wichtig finde ich Twitter, wobei ich muss sagen, dass ich nur ukrainische Autoren und einige wenige Russen lese, die sehr kritisch gegen Putins Politik sind", meint etwa Vlad Buchynskyy. Marjana Matys hingegen benützt hauptsächlich Facebook, "weil ich dort bei vielen Zeitungen, Fernsehsendern und Bloggern angemeldet bin. So brauche ich nicht Fernseher oder Radio einzuschalten, um die neuesten Nachrichten zu hören."

Alternative Kanäle werden gesucht und genützt - aus ganz unterschiedlichen Gründen. So wendet sich etwa ein in Dresden lebendes russisch-deutsches Künstlerpaar (Namen der Redaktion bekannt) enttäuscht von den westlichen Medien ab: "Wegen der primitiven Propaganda der westlichen Medien 2014 haben wir alle Abonnements abbestellt und greifen nun nur noch auf alternative Nachrichtenquellen zurück", erklären die beiden in einem Posting an Freunde zum Jahreswechsel.

Die Grazer Schriftstellerin Cordula Simon lebte von 2010 bis 2014 in Odessa. Misstrauen gegenüber den Medien hat auch Simon veranlasst, auf alternative Informationsquellen zurückzugreifen, etwa auf die ukrainische Plattform Fake-Control, die sich mit Beginn der Maidan-Demonstrationen in Odessa gegründet hat (siehe Interview).

Vielleicht kein Zufall, dass das Ende der Plattform gekommen war, als der Konflikt zum Krieg wurde: schließlich soll ja die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sein. Und mit ihr vielleicht auch die freie Berichterstattung. Sogar im Netz.

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