"Die Menschen sollen in Aktion treten"

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Grundsätzlich leiden wir in diesem Land an einem sehr niedrigen Selbstwert, der schon in den Schulen und Bildungseinrichtungen eingetrichtert wird.

Philippe Narval, der Generalsekretär des Forums Alpbach, hat ein Buch über Politik-Reformer geschrieben. Porträts von Innovatoren, die mit ihren Beispielen eine nicht von Ideologie und Machtinteressen geprägte Demokratie vorleben, in der der Mensch - und nur er -im Zentrum steht.

Die Furche: Ihr Buch trägt den Titel "freundliche Revolution". Warum braucht es eine Revolution?

Philippe Narval: Es braucht keine Revolution im historischen Sinn des Wortes. Ich glaube aber, dass gewisse Entwicklungen in Europa die Gefahr des Auseinanderdriftens der Gesellschaft vorantreiben. Und am Ende bedeutet das vielleicht auch, dass revolutionäre Entwicklungen zunehmen werden. Die Finanzkrise 2008 hat Dynamiken im Vertrauensverlust der Politik gegenüber verstärkt. Die Bürgerinnen und Bürger haben vielfach den Eindruck, dass Politik von gut organisierten Interessengruppen gesteuert wird.

Die Furche: Und wie kann man das ändern?

Narval: Es gibt Entwicklungen konstruktiver Kräfte, die die Gesellschaft stärken, auch im Sinne des Zusammenhalts. Das nenne ich eine "freundliche Revolution". Sie verbessern die Entscheidungsfähigkeit der Politik und helfen, den Graben, der sich zwischen der Politik und der Bevölkerung auftut, zu verringern.

Die Furche: Ihr Buch beginnt bei einem Wahlabend in den USA, an dem viele verwundert feststellen mussten, dass Donald Trump tatsächlich Präsident werden konnte. Auch eine Folge des Grabens innerhalb der Gesellschaft?

Narval: Sowohl bei der Wahl Donald Trumps als auch beim Brexit erkennt man eine klare Lagerbildung: Trumps Wähler sind aus dem ländlichen, strukturschwachen Raum und damit stärker benachteiligt. Es sind vor allem Männer von höherem Alter und niedrigerer Bildung, die nicht so mobil sind. Es sind die Enttäuschten und Verängstigten - Leute, die um ihre Jobs bangen oder sie verloren haben. So gesehen sind Trump und Brexit nur die Spitze von Entwicklungen, die Jahrzehnte zurückreichen.

Die Furche: Aber kann Politik ökonomische Klüfte überbrücken, die immer breiter werden?

Narval: Ich glaube nicht, dass die Demokratie ein Allheilmittel für alle Probleme des 21. Jahrhunderts ist, aber sie ist ein Akupunkturpunkt, der sehr bedeutsam ist.

Die Furche: Kommen wir zu den Helden ihres Buches. Es geht da durchwegs um Menschen, die revolutionär in dem Sinn sind, dass sie erfolgreich eine Veränderung von unten versuchen.

Narval: Ich wollte Menschen vorstellen, die konkret etwas bewirkt haben, die sich nicht damit zufrieden geben zu sagen, auf mich kommt es ja nicht an. Das tut es sehr wohl.

Die Furche: Und funktioniert zumindest laut Buch auf allen Ebenen der Gesellschaft.

Narval: Genau, wenn ich etwa die Leiterin des Kindergartens der Gemeinde Mäder in Vorarlberg als Beispiel nehme: Sie hat ein Konzept entwickelt, wie Kinder bei Entscheidungen mitbestimmen und damit Verantwortung übernehmen können. Dadurch wird bereits im Kindergarten Demokratie erlebbar gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass das einen Riesenunterschied im Leben der Kinder ausmacht. Oder etwa jene drei Politikwissenschaftler, die sich in Irland zu einer erfolgreichen anwaltschaftlichen Gruppe für eine Demokratiereform zusammengetan haben und hinter der Einführung des dortigen Bürgerrats stehen. Auch sie haben mehr getan, als in ihren Berufsbeschreibungen steht. Wichtig ist mir: Demokratie ist keine Trauminsel, auf der man landet und das war es dann. Es ist ein kontinuierlicher Prozess der Weiterentwicklung.

Die Furche: Diese Initiativen wirken alle wie Start-ups in der politischen Sphäre. Der Unterschied: Wirtschafts-Start-ups können für Millionen verkauft werden. Wie verkauft man zivile Start-ups?

Narval: Es geht letztlich darum, dass sich Entscheidungsträger diese Beispiele ansehen und sich fragen: Wo können wir Menschen dazu befähigen, in Aktion zu treten? Es gibt beispielsweise viele Bürgermeister, die gerne aktiv werden würden, denen aber oft das nötige Know-how in der Umsetzung fehlt.

Die Furche: Welche Art von Knowhow meinen Sie damit?

Narval: Etwa, wie organisiere ich einen Bürgerhaushalt, bei dem die Bürger einen Teil des Budgets mitbestimmen können? Wie mache ich eine Dorfentwicklung partizipativ? Wer da Informationen will, hat in den Bundesländern - bis auf Vorarlberg -Probleme, Ansprechpartner zu finden. Und in Europa sieht es ähnlich aus. Man findet wenig Ressourcen, was das betrifft. Auf den Universitäten das Gleiche. Alles ist sehr theorielastig. Das ist zu wenig. Auch die Digitalisierung bietet die Chance, das Wissen über partizipative Gesetzgebungsprozesse ins Parlament zu holen.

Die Furche: Ist das nicht teuer, wird der Politiker fragen?

Narval: Nein, das ist nicht teuer. Ich erinnere nur an die Initiative der Jugendsprecher aller Parteien vor den Nationalratswahlen. Die wollten einen Jugendbürgerrat als beratendes Gremium einrichten: Durch das Los ausgewählte Jugendliche sollten die Politiker beraten, wie man die Jugendpolitik voranbringen kann. Das wurde dann letztlich von Teilen der Verwaltung und Teilen der Parteien abgedreht. Warum? Weil es ein Exempel statuiert hätte und sich vielleicht andere Parlamentarier auch solche Gremien gewünscht hätten. Natürlich kosten die Dinge Geld. Aber wir zucken nicht einmal mit der Wimper, wenn es darum geht, einen neuen Autobahnkilometer zu bauen. Für die Weiterentwicklung der Demokratie sind uns dann schon Hunderttausend Euro zu schade.

Die Furche: Wenn ich einen Autobahnkilometer baue, dann bringt das Wachstum und Arbeitsplätze.

Narval: Aber bei der Demokratiereform geht es nicht um kurzfristige Effekte, sondern um Bahnen für die Zukunft.

Die Furche: Die Politik wird im Allgemeinen dafür belohnt, möglichst kurzfristig Erfolg zu haben.

Narval: Das ist eine der Schwachstellen der repräsentativen Demokratie, dass Wahlen einen immer wieder zwingen, sehr kurzfristig zu denken. Aber umso wichtiger wäre ein Bürgerrat, der als beratendes Gremium Gesetzestexte auf ihre Zukunftsfähigkeit testet. Indem Personen ideologiefrei Vorschläge begutachten und sich fragen, sind diese Gesetze zeitgemäß? Voraussetzung für ein solches Gremium ist natürlich das Vertrauen der Politik, dass Bürger tatsächlich etwas beitragen können und nicht bei allem und jedem ideologisch gesteuert werden müssen.

Die Furche: War nicht gerade die Flüchtlingskrise von 2015 ein Beispiel für erfolgreiche Selbstorganisation von Bürgern, als Politik und Verwaltung versagten? Dieses positive Momentum wird aber nun vielfach von Politikern als Naivität bewertet, die letztlich nur Gefahren gebracht hätte und Österreich viel zu viele Fremde.

Narval: Was bleibt, ist die Bestätigung, dass der Staat in Krisensituationen nicht mehr ohne die Zivilbevölkerung auskommt. Grundsätzlich leiden wir in diesem Land an einem sehr niedrigen Selbstwert, der schon in den Schulen und Bildungseinrichtungen eingetrichtert wird. Ich spreche von der schweigenden Mehrheit und Menschen, die vieles in Bezug auf die Gestaltung ihrer Lebensrealität beizutragen hätten, die sich das aber oft nicht zutrauen. Was wir brauchen, ist ein offenes Zugehen auf diese Menschen und eine Wertschätzung ihres Wissens.

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