" Die Politiker öfter ins Gefängnis stecken"

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Den Politikern fehle es an genug Atem für Leadership,meint der Politologe Helmut Kramer zu den Ergebnissen der IMAS-Studie.

Die Furche: Haben Sie die großen Unterschiede bei den Vorstellungen von Politikern und ihren Wählern in der IMAS-Studie überrascht?

Helmut Kramer: In einigen Punkten war ich schon überrascht. Das betrifft vor allem den EU-Bereich: Man weiß zwar, dass in der österreichischen Bevölkerung die Skepsis gegen EU und Erweiterung sehr groß ist. Wenn man aber jetzt sieht, dass eigentlich die FPÖ in dieser Frage am Puls der österreichischen Nation liegt - dann gibt einem das schon zu denken.

Die Furche: Hat es solche Umfragen bisher nicht gegeben?

Kramer: Die Studie betritt insofern Neuland, als dass gleichzeitig Bevölkerung, Politiker, Journalisten einbezogen werden. Da treten schon Spannungen, ja Klüfte zu Tage, die man in dieser Form nicht erwarten konnte. Nehmen Sie zum Beispiel, das große Sicherheitsbedürfnis bei sozialdemokratischen und grünen Wählern, auf das beide Parteien eindeutig zuwenig eingehen.

Die Furche: Liegt das an mangelnder Kommunikation?

Kramer: Diese Ergebnisse sind sicher ein Indikator, dass es in vielen Bereichen der politischen Klasse nicht gelungen ist, in produktiver Weise einen Dialog mit der Bevölkerung zu führen.

Die Furche: Wann und wo ist das gefährlich, wenn die Meinungen von Politikern und Bevölkerung zu stark auseinander driften?

Kramer: Ganz gefährlich wird es in der EU-Frage: Der politischen Klasse ist es nicht gelungen, ein europäisches Bewusstsein zu erzeugen. Bei den letzten EU-Wahlen lag Österreich mit 49 Prozent Wahlbeteiligung exakt im europäischen Durchschnitt. Ich fürchte, dass Österreich jetzt diesen Platz in der europäischen Mitte, der sehr wichtig ist, verlieren wird. Hierzulande wird ständig gegen die EU kampagnisiert - leider auch mit Unterstützung der politischen Klasse. Hier fehlt es eindeutig an politisch-pädagogischer Führung, und dafür wird Österreich noch teuer bezahlen.

Die Furche: Politische Führung bedeutet, Minderheitenmeinungen mehrheitsfähig zu machen?

Kramer: Der Fachbegriff heißt transforming leader: Bruno Kreisky oder Jacques Delors sind Beispiele dafür. Das Kennzeichen von transforming leadership ist es, einen tiefgehenden Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse zu erreichen. Der transforming leader will Grundlegendes leisten und in den politischen Prozess formend eingreifen.

Die Furche: Wie behalten "transforming leader" ihre Bodenhaftung, die Nähe zu den Wählern?

Kramer: Es muss eine möglichst tief gehende Kommunikation zwischen leader und Anhänger geben. Von Kreisky weiß ich, dass er den Tag mit Dutzenden "privaten" Telefongesprächen begonnen hat und sich die an ihn gerichteten Briefe aus der Bevölkerung sehr genau analysieren ließ. Die Wähler dürfen von der gesellschaftlichen Weiterentwicklung nicht ausgeschlossen sein, sondern müssen stets ein Teil dieses Prozesses bleiben.

Die Furche: Wieso ist "transforming leadership" zurückgegangen?

Kramer: Dafür gibt es strukturelle Gründe: Heute werden Politiker mit Umfragen gejagt. Das war früher weniger der Fall. Da konnte ein Politiker unpopuläre Phasen viel besser durchtauchen. Einige Medien arbeiten auch mit schlechten Umfrageergebnissen, die auf viel zuwenigen Befragten beruhen und meistens manipuliert sind. Mir hat ein Chefredakteur gesagt, solche Umfragen seien die Waffen der Medien gegen die Politiker. Aber ständig am Präsentierteller zu sein, das engt die Gestaltungsfreiheit von Politikern schon sehr ein.

Die Furche: Politiker haben nicht mehr genug Zeit, um zu führen?

Kramer: Sie haben einfach nicht mehr den Atem für transforming leadership. Durch die Medialisierung wird ihnen der lange Atem genommen. Politiker haben im Grunde genommen ja auch keine wirklichen Aus- oder Nachdenkzeiten mehr. Bei aller persönlichen Tragik, die dahinter gestanden hat: Für viele Politiker war in der Vergangenheit das Gefängnis eine ungehört gute Schule. Man müsste den Vorschlag machen, Politiker öfter ins Gefängnis zu stecken.

Viktor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, wurde bei jedem Generalstreik eingesperrt. Einmal hat die Regierung mit dieser Automatik aufgehört; Adler hat umsonst gewartet, dass man ihn abholt. Und er hat geklagt, dass man ihm damit die schönste Zeit genommen hat, in der er sich in Ruhe bilden konnte. Unsere Politiker hingegen haben total eindimensionale Karrieren - dafür können sie nichts. Und die Quereinsteiger sind nicht viel besser, die kommen ja auch fast nur mehr aus dem Journalismus.

Die Furche: Laut IMAS-Studie unterscheiden sich Journalisten in ihren Vorstellungen ja noch mehr gegenüber der Bevölkerung als Politiker.

Kramer: Die Politiker, die befragt wurden, denken immer auch an ihre Wähler. Journalisten machen das nicht. Diese Studie ist wirklich spitze, was das Spannungsfeld Politiker/Bevölkerung betrifft - bei den Ergebnissen über die Journalisten bin ich skeptisch; es wurden ja auch nur 51 befragt. Generell sind die meisten Journalisten Modernisten und Neutralitätskannibalen. Sie sind die Profiteure der Modernisierung und der Europäisierung und halten damit nicht hinterm Berg.

Die Furche: Trotz diesem Neutralitätskannibalismus in den Medien schätzen die Österreicher die Neutralität mehr als alles andere.

Kramer: Dass die Bevölkerung für die Aufrechterhaltung der Neutralität ist, wissen wir. Wir wissen auch, dass ÖVP und FPÖ damit die größten Schwierigkeiten haben. Aber was das jetzt wirklich für die Zukunft des Landes bedeutet, das kann trotz dieser vielen Daten keiner sagen. An diesem Punkt bleibt auch seriöse Meinungsforschung an der Oberfläche haften. Diese Daten können nicht wirklich beantworten, warum die Österreicher so an der Neutralität hängen. Und die Wissenschaft ist in diesen Interpretationsprozess zu wenig einbezogen. Meinungsforscher und Politiker allein finden jedoch auch keinen Ausweg.

Die Furche: Wie müsste man in dieser Frage weiter vorgehen?

Kramer: Man akzeptiert, dass diese Daten über die Neutralität ständig eine ungelöste Spannung verursachen. Trotzdem kommt darüber keine wirklich harte Diskussion in Gang. Genau die müsste jedoch geführt werden. Aber das würde soviel Unruhe und schöpferische Innovation und politisches Leadership brauchen, die Neutralität wirklich zu reformieren - damit sind alle politischen Parteien derzeit heillos überfordert.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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