6672909-1961_08_04.jpg
Digital In Arbeit

Die Rente und die Ruhe

Werbung
Werbung
Werbung

Am 5. Dezember des Vorjahres, zur selben Stunde, als der Nationalrat die Rentenreform annahm, die die Rentenruhensbestimmungen der Paragraphen 91, 92 und 93 ASVG auf hob und den Rentnern für die Zukunft den ungekürzten Bezug von mehreren Renten oder Rente und Bundespension nebeneinander gestattete, hat der Verfassungsgerichtshof den Paragraph 93 ASVG als dem Gleichheitsgrundsatz des Artikels 7 Bundesverfassungsgesetz widersprechend und daher verfassungswidrig aufgehoben. Der Bundeskanzler wurde verpflichtet, die Aufhebung im Bundesgesetzblatt unverzüglich kundzumachen, was unter Nr. 313 1960 inzwischen geschehen ist.

Noch wenige Tage zuvor hatten die Befürworter der Aufhebung von gewisser Seite zu hören bekommen, daß ihr Bemühen mit einer verdienten Blamage enden werde und daß die ständige Hetze und Drohung ' gegen ' die Ruhensbestimmungen, die den Verfassungsgerichtshof geradezu zum Krampus degradiere, endlich ein Ende nehmen müsse. Nun, unser höchster Gerichtshof hat entschieden, und damit müßte eigentlich das Problem endgültig bereinigt sein; leider ist dem aber nicht so. Zunächst hätte man sich von dem Erkenntnis G 10 60 des Verfassungsgerichtshofes erwartet, es werde sich im Hinblick auf die in der Sozialversicherung verpönte Bedürfnisprüfung

eingehend mit der Berechtigung des Gesetzgebers zur Schaffung von Ruhensbestimmungen überhaupt auseinandersetzen. Hierbei hätte besonders auch die Zusammensetzung der Rente aus dem durch eigene Leistung erdfen- ten Teil und aus dem Bundesbeitrag erörtert werden müssen. Eine solche Zusammensetzung weisen allerdings nur die Renten der Arbeiterversicherung auf, denn in der Angestellten- und Bergarbeiterversicherung gibt es bis jetzt keinen Staatsbeitrag zu den Renten. Der Verfassungsgerichtshof hätte dann weiter erwägen müssen, ob dieser selbsterdiente Teil der Rente beziehungsweise die Anwartschaft darauf. nicht der Eigentumsgarantie unserer Bundesverfassung (Artikel 5 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867) zu unterstellen sei. Denn daß sich diese nur auf Privatrechte beziehen sollte, erscheint heute kaum mehr vertretbar. Von alledem finden wir leider in dem Erkenntnis vom 5. Dezember 1960 kein Wort. Der Verfassungsgerichtshof hat sich darauf beschränkt, festzustellen, daß der Gesetzgeber zwar durchaus im Rahmen seiner Kompetenz gemäß Artikel 10, Absatz 1, Zahl 11, des Bundesverfassungsgesetzes (Sozialversicherungswesen) bleibe, wenn er gewisse Rentenbeträge, auf die sonst ein Anspruch besteht, wegen anderweitiger Einkünfte des Versicherten (sollten dabei auch solche aus Privatvermögen gemeint sein?) zum Ruhen bringe, er dürfe dabei nur keine unsachlichen Differenzierungen schaffen, wie dies eben in dem aufgehobenen Paragraph 93 ASVG der Fall gewesen sei.

Mit dieser sehr kurzen Begründung des Erkenntnisses läßt sich also für die Theorie der Sozialversicherung nicht viel gewinnen; wir werden ein weiteres Erkenntnis abwarten müssen, in dem der Verfassungsgerichtshof dann allenfalls näher an die oben aufgezeigten Probleme herantreten wird. Doch dürfte dies noch eine Zeit dauern, denn der Weg zu ihm führt nach wie vor nur über die Landesregierungen, und der Überprüfungsantrag könnte nur mehr die einzige noch durch die 8. Novelle zum ASVG aufrechterhaltene Ruhensbestimmung, nämlich die des Paragraph 94, zum Gegenstand haben.

Die harte Nuß

Ja, dieser Paragraph 94 ASVG, der auch in seiner neutextierten Form Rententeile zum Ruhen bringt, wenn der Rentenbezieher daneben entgeltlich unselbständig erwerbstätig ist und mit seinem Verdienst den ihm gestatteten Freibetrag von monatlich 680 Schilling überschreitet, birgt in sich eine harte Nuß, denn hier stoßen der Sinn jeglicher sozialpolitischen Gesetzgebung und der Rechtsgrundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ganz hart aufeinander, ohne daß zunächst ein Ausweg erkennbar wäre.

Die Altersrente nach dem ASVG erreicht nämlich gegenwärtig nach 45 Versicherungsjahren 79,5 Prozent des beitragspflichtigen tatsächlichen Arbeitseinkommens. Da die Rente jedoch vierzehnmal zur Auszahlung gelangt, erreicht sie in Wirklichkeit 92,75 Prozent des Arbeitseinkommens, womit-der Zweck der Rentenversicherung, die Alterssicherung möglichst nahe an den letzten Gehalt heranzuführen, erreicht erscheint. Da nun aber das ASVG infolge einer unglücklichen Textierung seines Paragraph 253 für den Anfall der Altersrente nur die Nichtexistenz einer Pflichtversicherung am Stichtag als Bedingung stellt, hat sich in der Praxis die Übung herausgebildet, daß der Rentenwerber sein Dienstverhältnis zum bisherigen Arbeitgeber lediglich für eine Zeit

lang unterbricht, um dann früher oder später mit dem selben oder einem nur wenig verringerten Gehalt wieder bei der selben Firma aufzuscheinen. Der Motivenbericht zum ASVG 1956 belehrt uns, daß es niemals in der Ab- sich des Gesetzgebers lag, einen derartigen Zustand herbeizuführen, aber der wenig geschickt gewählte Wortlaut des Gesetzes ermöglicht ihn eben.

Echte Altersrente

Es widerspricht natürlich jedweder sozialpolitischen Überlegung, Renten in solcher Höhe, die eben als Ersatz für das vorherige Arbeitseinkommen gedacht sind, durch dieses noch zu ergänzen und damit der Altersrente den Charakter einer Prämie für das Altwerden zu verleihen. Durch den auch durch die Rentenreform (die 8. Novelle zum ASVG) noch aufrechterhaltenen Paragraph 94 ASVG wird einem solchen Vorgang nun dadurch gesteuert, daß man Teile der Rente in einem solchen Fall zum Ruhen bringt. Aber damit kommt man dann eben wiederum mit dem Gleichheitsgrundsatz des Artikels 7 der Bundesverfassung in Konflikt, und es ist deshalb kaum an

zunehmen, daß sich der Paragraph 94 ASVG noch lange wird halten können.

Was soll aber dann geschehen? Keineswegs soll man sich zu der von einer Seite schon wieder propagierten „verfassungsmäßig einwandfreien Formulierung von Ruhensbestimmungen“ entschließen, denn eine solche gibt es nicht, und Ruhensbestimmungen haben, wir können es nur immer wiederholen, in der Rentenversicherung nichts zu suchen. Aber etwas anderes könnte man tun: Dem aus dem Motivenbericht zum Stammgesetz des ASVG 1956 ersichtlichen Willen des Gesetzgebers Genüge tun und die Altersrente nur dann anfallen zu lassen, wenn und i n- solange der Rentenwerber keine pensionsversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt.

Im Juni dieses Jahres findet in Wien der „1. Österreichische Juristentag" statt: auf seinem Programm steht unter anderem das Thema „Sozialversicherung und Bundesverfassung". Wir wollen hoffen, daß die hier erörterten Probleme dabei zur Sprache und allenfalls auch zu einer Klärung kommen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung