Die Romanheldin hat zu laut gedacht

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"Verunglimpfung des Türkentums" wird der türkischen Autorin Elif Shafak vorgeworfen - zum ersten Mal ist Kunst der Gegenstand des Rechtsstreits.

Eine ihrer Romanfiguren hat zu laut gedacht und ein Gesetz gebrochen: An diesem Donnerstag beginnt in Istanbul der Prozess gegen die Romanautorin Elif Shafak. Sie muss sich nach Artikel 301 des Strafgesetzes wegen "Verunglimpfung des Türkentums" verantworten.

In ihrem im März auf Türkisch erschienenen Roman "Der Bastard von Istanbul" räsoniert eine Frau über den "Genozid" an den Armeniern - was in der Türkei nicht nur ein Tabu, sondern auch strafbar ist. Elif Shafak ist nicht die erste, die vor Gericht zitiert wird. Bislang waren mehr als 60 Schriftsteller, Verleger, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten mit ähnlichen Klagen konfrontiert. Doch mit Shafaks Fall ist zum ersten Mal ein künstlerisches Werk und nicht der Künstler oder die Künstlerin Gegenstand des Rechtsstreits. Sollte es zur Verurteilung kommen, befürchten Intellektuelle künftig eine Zensur künstlerischer Arbeiten.

Bis zu drei Jahren Gefängnis

Artikel 301 stellt die öffentliche Herabwürdigung des Türkentums, der Republik oder staatlicher Institutionen unter Strafe. Zwischen sechs Monaten und drei Jahren Gefängnis drohen dafür. Der Artikel ist äußerst vage und offen für Interpretationen: Was "Herabwürdigung" von "Kritik" unterscheidet, bleibt ungeklärt. Die Entstehungsgeschichte des Artikels selbst mutet absurd an: Er ist Teil eines Gesetzespaketes, das am 1. Juni 2005 in Kraft trat - zur Angleichung türkischer Gesetze an EU-Normen.

Eine höchstgerichtlich bestätigte Verurteilung - und damit einen Präzedenzfall - gibt es seit Juni: Hrant Dink, Herausgeber des armenischen Magazins Agos, hat für journalistische Äußerungen eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten aufgebrummt bekommen. Wenn er innerhalb der nächsten fünf Jahre noch einmal einen ähnlichen Verstoß begeht, dann muss er sie auch absitzen.

Trotz der anhaltenden Kritik der EU war der türkischen Regierung bislang keine klare Stellungnahme zu entlocken. Man wolle erst die Anwendung durch die Gerichte abwarten, bevor man eine Abänderung oder Streichung des Artikels diskutieren wolle, lautete der Tenor.

EU-Appell nach Ankara

EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn schickte nach Dinks Verurteilung einen deutlichen Appell nach Ankara. "Ich möchte daran erinnern, dass Meinungsfreiheit ein Schlüsselprinzip der Kopenhagener Kriterien ist und einen Kernpunkt der Demokratie darstellt", schrieb er. Und er wies mit dem Zeigefinger auf den für Ende Oktober erwarteten Fortschrittsbericht hin, in dem Kritik am Artikel 301 nicht fehlen wird.

Hinter der Klage gegen Shafak steht der nationalistische Anwalt Kemal Kerincsiz, der mittels Aufsehen erregenden Prozessen Stimmung gegen die Westannäherung des Landes macht. Kerincsiz ist Vorsitzender einer Juristenvereinigung und eine Symbolfigur der Ultranationalisten. Die nationalen Interessen der Türkei seien durch einen EU-Beitritt gefährdet, so Kerincsiz, das Land würde sich in "Sklaverei" begeben. Geht es nach ihm, sollten die Türken nur "unter den eigenen Leuten" nach politischen Bündnissen suchen - im Osten, in Zentralasien.

Ideale Hassfigur gefunden

In Shafak haben antiwestliche Meinungsmacher eine passende Hassfigur gefunden. 1971 als Kind einer türkischen Diplomatin in Straßburg geboren, kam sie erst als junge Frau nach Istanbul. Nie habe sie sich niederlassen wollen, sagt Shafak. In den letzten Jahren pendelte sie zwischen Istanbul und Tucson, wo sie an der University of Arizona am Institut für Near Eastern Studies unterrichtete. Sie beschäftigt sich mit dem Verdrängten, mit den Leerstellen von Gender, Gedächtnis, den kulturellen und religiösen Rändern des osmanischen Reiches. Ihre letzten beiden Bücher verfasste Shafak in englischer Sprache.

"Ich fühle mich Istanbul sehr verbunden, aber zeitweise muss ich weg", sagt die Schriftstellerin. "Mich verbindet eine Hass-Liebe mit dieser Stadt." In nächster Zeit wird Shafak jedoch in Istanbul sein. Und das nicht nur auf Grund des Prozesses. Sie hat vergangene Woche ihr erstes Kind zur Welt gebracht.

"Der Bastard von Istanbul" erscheint Anfang 2007 im Eichborn Verlag.

"Die Heilige des nahenden Irrsinns" (Eichborn 2005) und "Spiegel der Stadt" (Literaturca Verlag , 2004) sind in deutscher Sprache erhältlich.

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