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Die Sanierung der Krankenkassen

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Die mit so großer Spannung erwartete, in den Wiener Sofiensälen für den 6. und 7. Juni angesetzte Enquete „zur Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Krankenkassen“ hat nach nur sechsstündiger Dauer schon am Nachmittag des ersten Yerhandlungstages ein stilles Ende gefunden. Außer Proksch, Karnitz und Böhm gab es nur zwölf Redner, die den Standpunkt der von ihnen vertretenen Verbände und Kammern darlegten; eine Diskussion — man hatte erwartet, daß Aerzteschaft und Hauptverband der Sozialversicherungsträger die Klingen kreuzen würden — blieb leider aus Schade.

Das ganze Material wurde nunmehr zur weiteren Verarbeitung vom Sozialminister übernommen, der versprochen hat, bis zum Herbst aus den vorgebrachten, einander vielfach widersprechenden Anregungen einen Gesetzentwurf zur endgültigen Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu erstellen, der dann im Begutachtungsverfahren den Interessentengruppen zugefertigt werden wird.

Damit ist jedoch der Fall keineswegs erledigt. Man darf die Kassen nicht sich selbst überlassen; sie haben das verflossene Jahr mit einem 100-Millionen-Schilling-Defizit abgeschlossen, und das finanzielle Ergebnis des heurigen Jahres wird, wenn man ihnen nicht rasch zu Hilfe kommt, bestimmt nicht günstiger ausfallen.

Es gibt nur einen Ausweg. Der Entwurf der vom Sozialministerium bereits fertiggestellten 4. Novelle zum A S V G, der Anfang April d. J. im Ministerrat eingebracht worden war, mangels einer Einigung der Regierungsparteien aber nicht weitergeleitet werden konnte, muß ehestens den Nationalrat passieren und zum Gesetz erhoben werden. Diese 4. Novelle erschließt nämlich den Kassen Mehreinnahmen in der Höhe von rund 135 Millionen Schilling und erzielt damit ihre einstweilige Sanierung; gleichzeitig soll den notleidenden unter ihnen mit einem vom Bund garantierten Kredit von 120 Millionen Schilling, der im Laufe von zehn Jahren rückzahlbar wäre, beigesprungen werden. Das ist das, was jetzt — und zwar bald — geschehen TOufiv:Dic endgültige Sanierung kann dann ruhig . -bis 'zumi'Herbst-wartenv

Und nehmen wir nun das H a u p t e r g e b-n i s der Wiener Enquete gleich vorweg: An der gegenwärtigen Organisationsform der gesetzlichen autonomen Krankenversicherung wird nichts geändert werden, ein staatlicher allgemeiner Gesundheitsdienst nach englischem Muster ist derzeit nicht aktuell. Ob man nach Durchführung aller vorgeschlagenen, zum Teil sehr einschneidenden Reformen auch ohne eine dauernde staatliche finanzielle Hilfe das Auslangen wird finden können; muß sich erst erweisen.

Und noch etwas ist bei der Enquete eindeutig festgestellt worden: Nicht die Grippewelle des Vorjahres war es, die die Krankenversicherung in eine so üble finanzielle Lage brachte; sie löste nur schließlich die Krise aus. Die Ursachen langen ganz anderswo; vor allem in der ge-

änderten Alterszusammensetzung der Bevölkerung, in der Verteuerung der Medikamente durch den Fortschritt der ärztlichen Kunst, in der Uebertragung von den Kassen wesensfremden Aufgaben an diese, ohne daß ihnen die entsprechende Entschädigung zuteil werden würde, und nicht zuletzt in der dauernden Ueberforde-rung der Kassen durch die Versicherten.

Wenn wir den Eindruck prüfen, den die Vorschläge der einzelnen Verbände und Kammern auf uns gemacht haben, so muß man sagen, daß die Anregungen des Hauptverbandes, durch Hofrat Dr. Steinbach sehr maßvoll vorgebracht, durchaus realisierbar und zweckentsprechend erschienen, während die österreichische Aerztekammer Vorschläge machte, die kaum jemals verwirklicht werden können. Läßt sich denn heute wirklich noch der Versichertenkreis in der Krankenversicherung durch eine obere Einkommensgrenze beschränken und die Risken-gemeinschaft der Arbeiter und Angestellten trennen? Das hieße doch das Rad der ganzen sozialpolitischen Entwicklung zurückdrehen. Worüber man allenfalls reden könnte, wäre der Vorschlag der Aerzte, die Krankenkassen sollten einen Pauschalbetrag von jährlich etwa 20 bis 25 Prozent der Einnahmen auswerfen, der dann von der Aerztekammer den Vertragsärzten anteilsmäßig zugeleitet werden würde.

Im folgenden seien nun die einzelnen vom Sozialministerium zur Verarbeitung übernommenen Anregungen der Enquete wiedergegeben:

1. Organisatorische Maßnahmen der Kassen: Aufnahmesperre für das Personal des Verwaltungsdienstes und Erstellung von Dienstpostenplänen, Bausperre für die Errichtung von Verwaltungsgebäuden, Ambulatorien, Kuranstalten, und Erholungsheimen sowie Ueberwachung der gesamten, in Zukunft einheitlichen Personal- und Finanzpolitik sämtlicher Kassen durch den Hauptverband.

2. Leistungen: Keine Erweiterung bzw. weitere Erhöhung der satzungsmäßigen Mehr-und freiwilligen Leistungen, Kostenbeteiligung der Versicherten bei Kur- und Erholungsaufenthalten, Intensivierung der ärztlichen und nichtärztlichen Kontrolle; auch hier wird die Leistungspolitik der Kassen durch den Hauptverband überwacht werden.

3. Hinaufsetzung der Höchst-beitragsgrundlage für die Krankenversicherung von 2400 auf 3600 Schilling.

4. Neuordnung der Heilmittelversorgung: Nach Prüfung der in Oesterreich zugelassenen 4800 Heilmittelspezialitäten durch Fachleute soll eine sogenannte P o s i-t i v 1 i s t e erstellt werden über jene Spezialitäten, die als unbedingt notwendig für die Rechnung der Kassen abzugeben sind. Wie nötig die Schaffung einer solchen Liste ist, geht daraus hervor, daß der Heilmittelaufwand in der Krankenversicherung von 202 Millionen Schilling im Jahre 1951 auf 550 Millionen Schilling im Jahre 1957 gestiegen ist.

5. Vertragliche Neuregelung der Beziehungen zur Aerzteschaft: Honorierung der praktischen Aerzte durch einen Jahreskopfbeitrag für jeden Anspruchsberechtigten (Versicherten und Familienangehörigen); jeder Berechtigte soll sich nach seiner Wahl in die Liste eines praktischen Arztes eintragen lasseh, womit dann etwas dem Hausarztsystem ähnliches, auch medizinisch Vorteilhaftes entstehen würde (sogenanntes holländisches System).

6. Erhöhung der Ersatzleistungen bzw. Vergütungssätze für von den Kassen übernommene, versicherungsfremde Aufgaben (Auftragsangelegenheiten).

7. Selbstbehalt: Vorläufig nur durch Erlag einer Fünfschillinggebühr bei Lösung eines Krankenscheines und — wie bereits erwähnt — durch Kostenbeteiligung bei Kur- und Erholungsaufenthalten.

8. Gewährung öffentlicher Mittel an Spitäler, um die Krankenversicherungsträger zu entlasten.

9. Beim Hauptverband soll eine gemeinsame Rücklage der Krankenkassen in der Höhe von einem halben Prozent der Beitragseinnahmen für diejenigen Kassen geschaffen werden, die vorübergehend einer finanziellen Hilfe bedürfen. Damit will man eine Situation, wie sie sich im Vorjahr bei der Grippewelle ergab, in Hinkunft vermeiden.

Fassen wir zusammen: Die Enquete war nicht umsonst, man hat einander die gegenseitigen Standpunkte bekanntgegeben und vor allem gesehen, daß alle Gruppen bemüht waren, jeden Radikalismus zu vermeiden und die Sanierung der Kassen in einer ruhigen, rein sachlichen Atmosphäre durchzuführen. Lind gerade das liegt im Interesse der Versicherten, zu deren Nutzen ja die ganze Institution aufgebaut wurde. Daß sie selbst dazu sehr viel beitragen können, wissen sie heute sehr gut. Sie dürfen den Kassen gegenüber nicht nur fordern, sie haben ihnen gegenüber auch Pflichten, denn es sind ihre eigenen Gelder, die bei den Kassen verwaltet werden. Sie müssen bereit sein, Leistungen auch für den Fall zu erbringen, wenn sie selbst die Hilfe der Gemeinschaft nicht in Anspruch nehmen. Ein vernünftiger S e 1 b s t b e-h a 11 (Beteiligung der Versicherten an den Krankheitskosten) ist hier, sozialpädagogisch gesehen, durchaus am Platze.

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