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Die schweizerische Neutralitat

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Rußland hat für Oesterreich ein internationales Statut angeregt, das in“ seinen Grundzügen demjenigen der Schweiz ähneln soll. Angesichts der sehr bedeutenden Unterschiede im Aufbau der beiden Staaten und in den Traditionen ihrer Völker ist zu untersuchen, inwieweit diese politische Konzeption Moskaus verwirklicht werden kann. Hierzu ist es aber notwendig, die wichtigsten Merkmale der schweizerischen Neutralität zu kennen.

Die geopolitische Lage paart sich nun im Falle der Schweiz mit einer geschichtlichen Entwicklung, die auf das XVI. Jahrhundert zurückgreift. Seit jener Zeit waren die Kantons bemüht, sich individuell und kollektiv von den Kriegen in anderen Ländern fernzuhalten. Aus dieser Einstellung wuchs der Begriff der „ewigen Neutralität“ empor, dessen Stärkung sich gemäß der Formulierung von Nationalrat W. Bretscher daraus ergab, daß das Schweizervolk bestrebt war, ein Minimum von äußerer Macht mit einem Maximum von innerer Freiheit zu verwirklichen. Diese konsequent befolgte Politik erhielt am Wiener Kongreß ihre Krönung durch eine Anerkennung nach den Regeln des internationalen Rechtes. Am 15. September 1814 erhielt der Genfer Diplomat Pictet de Rochemond die Weisung, „die feierliche Anerkennung der schweizerischen Eidgenossenschaft als eines freien, unabhängigen, durch seine eigene Verfassung regierten Staates zu begehren, wobei aber die Erwähnung irgendeiner Garantie sorgfältig vermieden ist“, und Punkt II der gleichen Instruktionen fügte noch hinzu, daß „die Anerkennung unserer Neutralität von jeher die Hauptbasis der schweizerischen Politik war“. Der Kongreß setzte einen Ausschuß zur Behandlung der Materie ein, dessen Schlußbericht (16. Jänner 1815) wie folgt lautete1:

„Die verbündeten Mächte haben sich verpflichtet, die ewige Neutralität des helvetischen Gebildes anzuerkennen und anerkennen zu lassen, diese Verpflichtung aber nur in jenem Ausmaße als bindend zu erachten, in welchem die Schweiz Europa... eine hinreichende Garantie bieten kann, der Neutralität ihres Gebietes Geltung zu verschaffen.“

Dieser Bericht wurde in der Schlußdeklaration des ersten Wiener Kongresses vom 20. März 1815 angenommen, und am 20. November des gleichen Jahres, auf dem zweiten Wiener Kongreß — nach der Elba-Waterloo-Unterbrechung — kam es zur Unterzeichnung des Aktes mit folgendem Wortlaut1:

„... die Signatarmächte der Wiener Erklärung vom 20. März anerkennen hiermit ausdrücklich und authentisch die ewige Neutralität der Schweiz und* garantieren ihr die Integrität und die Unverletzlichkeit ihres Gebietes... Die Signatarmächte der Wiener Erklärung vom 20. März anerkennen authentisch durch die vorliegende Urkunde, daß die Neutralität und die Unverletzlichkeit der Schweiz und ihre Unabhängigkeit von jeglichem fremden Einfluß dem wahrsten Interesse der gesamten europäischen Politik entsprechen.“

Die Unterschriften unter dieses Dokument sind nicht nur wegen der historischen Namen interessant: Metternich, Hardenberg, Richelieu, Castlereagh, Rasumofsky. Und wer unterschrieb füi die Schweiz? Niemand! Es ist eben kein Vertrag zwischen der Schweiz und irgendwelchen anderen Staaten, sondern eine einseitige Erklärung der damaligen Großmächte, woraus sich gleichfalls der besondere Charakter der ewigen Neutralität der Schweiz ableiten läßt, die keine Bindungen und daher auch keine Garantien anderer Staaten zuläßt.

Die „ewige Neutralität“ der Schweiz ist ein Fall „sui generis“, der sich von allen anderen Arten der Neutralität abhebt. Zunächst ist es der einzige bestehende Fall einer ewigen Neutralität. Die Republik Venedig, die sich im 18. Jahrhundert zu dieser Politik bekannt hat, besteht nicht mehr. Die Neutraliät als unabänderliche Regel wurde auch der auf dem Wiener Kongreß geschaffenen Republik Krakau auferlegt, doch hat Oesterreich sie im Jahre 1846 annektiert2. Auch Belgien wurde, im Jahre 1830, neutralisiert, doch zeigen.sich eben in diesem Falle die wesentlichen Unterschiede zwischen der aus eigener Machtvollkommenheit gewählten und von den übrigen Staaten bloß anerkannten Neutralität und der international beschlossenen Neutralisierung. Im Vertrag vom Jahre 1830 wurde nämlich Belgien vorgeschrieben, einige seiner Festungen zu schleifen; ferner enthält der Vertrag Vorschriften der Großmächte an die Adresse des neuen Staates:

„Er ist verpflichtet, allen Staaten gegenübe diese Neutralität zu wahren.“

Demgegenüber wurde die Neutralität der Schweiz durch die anderen Mächte nicht erst geschaffen, sondern als gegebene Tatsache anerkannt; daher konnten sie der Schweiz auch keine Bedingungen stellen wie fünfzehn Jahre später Belgien. Nicht die Schweiz mußte Festungen schleifen, sondern Frankreich wurde es verboten, die nahe an Basel im Südelsaß gelegene Stadt Hüningen zu befestigen, und um den exponiert gelegenen Kanton Genf zu schützen, wurde die Entmilitarisierung von Savoyen Vereinbart. Bei der Neutralisierung haben also die betroffenen Staaten Rücksichten auf die anderen zu nehmen, bei der Anerkennung der ewigen Neutralität wurden die politischen Vorbedingungen hierzu durch Verpflichtungen der anderen Länder geschaffen.

Die Neutraliät der Schweiz hat somit einen deutlichen Vorsprung gegenüber der internationalen Lage anderer neutraler Staaten, ohne hierfür durch irgendeine Hypothek belastet zu sein. Denn die Großmächte des Wiener Kongresses betrauten die Schweiz damit, für ihre Unverletzbarkeit zu sorgen, was so viel bedeutet, daß auch die Schweiz völkerrechtlich frei ist, alle defensiven Vorkehrungen zu treffen, wozu im Notfall auch die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zählen würde. Die gesamte Außenpolitik und auch das Heerwesen der Schweiz sind somit frei von jeglicher Einschränkung,

Verpflichtungen haben nur die anderen Staaten gegenüber der Schweiz.

Es wäre verfrüht, jene Bestimmungen des Abkommens über die ewige Neutralität der Schweiz zu bezeichnen, die auch für den Fall Oesterreich anwendbar wären. Die international gesicherte Neutralität verlangt, daß die Bestimmungen jedesmal den besonderen Verhältnissen des betreffenden Landes angepaßt werden. Dies entsprechend den im österreichischen Falle bestehenden Gegebenheiten auszuhandeln, wird die Aufgabe der Experten und der Konferenz der Außenminister sein, und wenn auch gute Aussichten für einen Enderfolg bestehen, sollte man sich für dieses abschließende Kapitel mit Geduld wappnen.

1 Der Originaltext ist nur in französischer Sprache abgefaßt, die Uebersetzung ins Deutsche ist diejenige des Verfassers dieses Aufsatzes.

2 Nach dem Ausbruch der Revolution am 18. Februar J846 und ihrer Ausdehnung über die Grenzen der Republik Krakau hinaus wurde auf des Staatskanzlers Metternich Verlangen von den drei Besetzungsmächten Oesterreich, Rußland und Preußen die Konstitution der Republik beseitigt. (Srbik: „Metternich“, 2. Band, Seite 149 u. ff. Die Red.)

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